Ein Bericht von Eckkneipen, einer bunten Kirche und grauen Häusern - und wie jeder hier versucht, das Viertel besser zu machen, als sein Ruf ist.

Hamburg. Wer Mümmelmannsberg und seine knapp 20 000 Anwohner verstehen will, der braucht nur die 1320 Meter entlangzugehen. Der Geruch vom Bratfett der Dönerspieße zieht über diese Straße, Jugendliche warten auf den Bus und tippen Nachrichten in ihre Handys, Arbeitslose trinken ihr Bier auf der Parkbank, Eltern halten Plastiktüten in der einen, ihr Baby in der anderen Hand.

An der Kandinskyallee wohnen kaum Menschen, aber nirgendwo lebt Mümmelmannsberg mehr als in dieser Straße. Die Kandinskyallee ist die Hauptschlagader von Mümmelmannsberg. Den Beweis dafür findet man gut sechs Meter unter dem Asphalt. Die U 2 läuft parallel zur Kandinskyallee. Es ist die rote Linie.

Das Herz dieser Lebensader schlägt im "Astra-Pott". Über dem Tresen der Eckkneipe liegt Zigarettenqualm, an den Wänden blinken Daddelautomaten, vor dem Fenster stehen rote Rosen. Deutsche und Türken trinken ihr Feierabendbier. Schlagermusik treibt den Puls in die Höhe. Am Tresen sitzt auch Osman Talu. Seit 15 Jahren ist er Besitzer der Kneipe. Wenn er etwas kennt, dann ist es das Nachtleben an der Kandinskyallee. Und das ist manchmal ziemlich brutal. Schon einige Male musste er die Polizei rufen, als es am Bahnhof eine Schlägerei gab. Manche Jugendliche hat Talu dann mitten in der Nacht an seinem Tresen verarztet. Viele nennen ihn "Onkel Osman". Doch er leistet nicht nur Erste Hilfe. Als Vorsitzender des Fußballvereins SC Europa ist er so etwas wie der Langzeittherapeut für viele junge Menschen, denen der Sport eine Perspektive gibt, in einer Siedlung, in der knapp ein Drittel aller Menschen von Hartz IV lebt. "Bei uns spielen elf Nationen in einem Team", sagt er. Übrigens auch die beiden jüngeren Brüder von HSV-Profi Piotr Trochowski, ergänzt er.

Herz und Seele der Kandinskyallee liegen nur wenige Meter Luftlinie auseinander - gegenüber vom Astra-Pott hat die Gemeinde von Pastor Michael Ostendorf ihr Zentrum. Die Fassade ist futuristisch in Weiß, Hellblau und Lila gestrichen. Der Künstler Hans Kock hat den flachen Bau entworfen, eine Kirche ohne Kirchturm und Glocke, als Gegenprogramm zu den grauen Hochhäusern in der Nachbarschaft.

Und weil Ostendorfs Kirche selbst ein Kunstwerk ist, passt sie so gut in diese Straße. Die Kandinskyallee sei nicht umsonst nach dem großen russischen Maler benannt. "In diesem Stadtteil lebt die Kunst", sagt er. Es gibt die Frauenmalgruppe "Wir", den Künstlerkeller, die Fotogruppe "Graukeil" und den Verein "Offenes Atelier". Pastor Ostendorf steht zwischen Farbeimern und Kabeln in einem Raum des Gemeindehauses und blickt auf die Kandinskyallee. Wenn das Kulturcafé fertig renoviert ist, soll Farbe nicht mehr für die Wände, sondern nur noch für Gemälde verwendet werden. "Müsste Kandinsky seine Straße heute selbst porträtieren, würde er ein Hochhaus malen", sagt er. "Völlig abstrakt natürlich - in Kreisen, Dreiecken und Quadraten."

Die realen zwölfstöckigen Hochhäuser der Nachbarschaft spiegeln sich in den Fenstern der Kirche. Bilder von Paul Klee und August Macke hängen auf riesigen Plakaten an ihrer Fassade. Unten auf dem Platz vor den Wohnblöcken stehen ein Dutzend Statuen auf Granitsockeln, die in einem großen Karree aufgestellt sind. 1982 ist der Skulpturenhof entstanden. Bildhauer wie Edwin Scharff und Gustav Seitz stellen ihre Kunstwerke hier aus, aber auch Bewohner haben Skulpturen angefertigt.

Werner Vogel steht neben einer der Skulpturen. "Das da bin ich", sagt er und zeigt auf einen Mann, der eine Frau umarmt. "Die Frau, das ist die ehemalige Kindergärtnerin." Für das Kunstwerk aus Granit stand Vogel Modell. Es ist Symbol der Solidarität der Menschen in diesem Stadtteil. Der 71 Jahre alte Werner Vogel veranstaltet jeden Sommer die Kunst- und Kulturtage. 2500 Menschen besuchen die Ausstellungen. Vogel ist ein Bewohner der ersten Stunde - als Mümmelmannsberg Anfang der 1970er gebaut wurde, zog er hierher. Er hat die Zeiten erlebt, als noch die Motorräder der Hells Angels durch die Kandinskyallee knatterten.

Das ist Vergangenheit, und trotzdem kämpfen die Anwohner immer noch gegen das miese Image ihrer Heimat. Kunst ist die Speerspitze dieses Kampfes - und die wird neu geschärft. Werner Vogel holt ein Stück Papier aus seiner Tasche. Eine Skizze zeigt die Kandinskyallee mit Schaukästen auf dem Mittelstreifen der Straße. "Das ist mein Traum", sagt Vogel. "Eine Freiluftgalerie auf der Kandinskyallee." Wenn es eine Farbe in der Kandinskyallee gibt, dann ist das nicht das Grau der Häuserfassaden, sondern es ist die Farbe Grün. Die Allee hat diesen Namen verdient: Bäume wachsen neben der Gehwegbeleuchtung, Büsche schützen die Erdgeschoss-Wohnungen vor dem Lärm der Autos.

Am dichtesten grünt die Kandinskyallee aber auf den wenigen Quadratmetern von Jessica Guse. An ihrem Blumenstand verkauft sie Tulpen, Rosen und Nelken. Der Luxus des kleinen Mannes, wie sie sagt. "Über Mümmelmannsberg liest man ja immer nur dann, wenn Jugendliche randaliert haben oder es eine Messerstecherei gab", sagt sie. "Pah, dann bleiben Sie mal einen Nachmittag hier. Niemand ist hier gewalttätig". Für ihre Kunden ist sie Jessy. "Die Jungs da drüben auf der Parkbank helfen mir, wenn ich den schweren Verkaufshänger bewegen muss. Und auch wenn es mal Stress gibt, sind sie immer für mich da", sagt sie und gibt einem noch einen von ihr etwas abgeänderten Hamburger Spruch mit auf den Weg: "Billstedt, Mümmelmannsberg und Horn schuf der Liebe Gott im Zorn", sagt sie. "Nur beim Grün hat er sich hier viel Mühe gegeben." Jessy hilft ihm, dass es so bleibt.

12. August: Erikastraße (Eppendorf), 14. August: Nagels Allee (Eimsbüttel), 17. August: Papenhuder Straße (Uhlenhorst)