Vera Altrock fragt Menschen, was sie gerade bewegt, lädt sie auf einen Kaffee ein und lässt sie erzählen. Heute: Rentnerin Else Kruse aus Fuhlsbüttel

Diese Frau ist wie ein Brunnen: "Der hört nicht mehr auf zu sprudeln, wenn man ihn erst einmal angestellt hat", sagt Else Kruse über sich. "Was soll ich euch erzählen?" Aus hundert Jahren erlebter Geschichte könne sie berichten, von Weltkriegen und der Währungsreform, aber auch vom Schwimmenlernen im Bartholomäusbad oder von ihren tollen Lehrern, die sie bis weit nach der Schulzeit verehrt habe. "Ich kann mich an alles seit meinem fünften Lebensjahr erinnern", sagt die Rentnerin. "Aber ich denke nicht viel an früher, sondern schaue lieber in die Zukunft."

Die Kita-Proteste von Nachbarn, die sich über Kinderlärm beschweren, verfolgt die 100-Jährige regelmäßig. Schließlich macht sie sich auch um ihre Enkelkinder Sorgen. Doch nicht nur das. "Kaum einer denkt daran, dass die Erzieher den ganzen Tag den Lärm ertragen müssen", sagt sie. Zu einer Zeit, als hauptsächlich Sekretäre die Protokolle führten, war Else Kruse schon emanzipiert. Sie forderte gleiche Bezahlung wie ihre männlichen Kollegen. "Aber ohne Abitur hatte ich keine Chance", sagt die Rentnerin. Um ihr Gehalt aufzubessern, schrieb sie wöchentliche Artikel für die "Mitropa-Zeitung", die in den Zügen zwischen Hamburg und Berlin auslag. Viele der Exemplare aus den frühen 30er-Jahren hat sie aufbewahrt. "Ich war schon ganz clever", sagt Else Kruse und lacht.

Betreutes Wohnen oder Pflegeheim sind für sie kein Thema. "Ich habe doch so eine tolle Nachbarschaft!" Zu ihrem 100. Geburtstag sangen alle ein Ständchen. "Leider höre ich so schlecht, das deprimiert mich immer ein bisschen", sagt sie. Aber schreiben, das kann sie noch immer. Demnächst will Else Kruse die Memoiren ihres verstorbenen Mannes aufzeichnen. Zum Schluss wirft die jung gebliebene 100-Jährige noch einen Blick in die Zukunft: "Wenn ich wiedergeboren werde, dann als Journalistin."