Den 99-jährigen Bill Collard nervt der Lärm der Güterzüge. Aufhören zu arbeiten möchte der gebürtige Brite immer noch nicht.

Irgendwann ist Bill Collard der Kragen geplatzt. Bildlich gesprochen. Nicht dass man dem 99-Jährigen, wenn der Zorn des Gerechten über ihn kommt, keine vor Ärger geschwollene Halsschlagader zutraute - der Barmbeker ist trotz biblischen Alters noch ziemlich fit. Und das, obwohl er seit geraumer Zeit nachts kein Auge mehr zutut. Der gebürtige Brite ist aber zu distinguiert, um körperlich aus der Haut zu fahren. Also beschwert er sich verbal: "Ich schlafe seit einem Jahr schlecht - dieser schlimme Lärm!"

Seine Wohnung an der Fuhlsbüttler Straße liegt nur einen Steinwurf von den Bahnschienen entfernt. Dort rattern, sagt Collard, nachts die Güterzüge drüber, "sie rauben mir den Schlaf". Und deshalb ist Collard zurzeit nicht mehr nur der älteste Vertreter der Stadt (das Abendblatt berichtete), sondern auch der älteste Wohnungsuchende. Er muss raus aus der Wohnung im zweiten Stock des schmucklosen Nachkriegsbaus, hat er beschlossen. Collard vertreibt immer noch schottischen Honig in Hamburg, "aber ich kann meinem Beruf zurzeit nicht richtig nachkommen, weil ich erschöpft bin".

Denn mit "seniler Bettflucht", wie die Schlaflosigkeit mancher Senioren medizinisch, aber auch spöttisch-umgangssprachlich genannt wird, hat Collards Leid nichts zu tun. Auf die Dauer geht der Schlafmangel nämlich an die Substanz. Problem: Er findet keine neue Wohnung in Barmbek. Ins Altenheim will er nicht ("Igitt!"), für betreutes Wohnen ist er zu alt - und längst nicht jede Wohnung kann er sich leisten.

Die Pflegerin Daniela Klinger, die ihm seit ein paar Monaten zweimal die Woche den Haushalt macht, hilft ihm bei der Wohnungssuche. "Herr Collard hat einen Dringlichkeitsschein, aber das nutzt bei der Saga nichts, dort steht er auf der Warteliste", sagt sie bedauernd, während Collard, wie immer gewandet in Anzug und Krawatte, ein wenig grimmig schaut. Er ist eigentlich die Freundlichkeit in Person, aber "in einem Loch möchte ich auch nicht leben".

Ein solches hat er sich vor Kurzem angeschaut, 30 Quadratmeter. Pff, wo soll er denn da mit seinen Sachen hin? Ein beinah 100-jähriges Leben braucht Platz (die ganzen Erinnerungsgegenstände!), und außerdem ist sein Wohn- ja auch sein Büroraum. Man muss ihn gar nicht erst fragen, wann er denn mal aufhört mit dem Arbeiten, "das werde ich noch ewig machen", sagt er, als ob sein Arbeitsleben nicht bereits jetzt schon ewig währte. Neulich ist er wieder mal mit seinem weißen Mercedes losgefahren, um seine Delikatessen einigen Geschäften anzupreisen. Weil er sich wegen einer Baustelle auf die falsche Spur einordnet, hält ihn ein Polizeiwagen an. "Aber sie haben mich weiterfahren lassen", sagt Collard und schmunzelt. Es liegt bestimmt an dieser Zähigkeit, die ihn so alt werden ließ.

Collard stapft zur Tür, auf dem Tisch liegen ausgerissene Wohnungsanzeigen. Er sucht jetzt weiter nach einer ruhigen Bleibe.

Denn fürs Arbeiten muss man ausgeschlafen haben.