Fast alle zwei Minuten wird in Hamburg eine Straftat verübt. Auf 1000 Hamburger kamen im Jahr 2008 fast 140 Straftaten: Es ist sehr wahrscheinlich, in seinem Leben mindestens einmal Opfer einer Straftat zu werden.

Menschen, die Opfer werden, leiden oft ein Leben lang. Oft sind sie auch "einfach nur traurig" - oder sie haben schlicht eine Menge Ärger und Scherereien. Für das Abendblatt haben vier Hamburger, denen Straftaten angetan wurden, fiktive Briefe an "ihre" Täter verfasst. Sascha Balasko und Jan-Eric Lindner haben sie aufgezeichnet.

Hallo Schläger,

ich bin froh, dass Du, wenn Du diesen Brief überhaupt lesen solltest, nicht in Freiheit bist. Ich bin erleichtert darüber, dass man Dich jetzt eingesperrt hat. So wie ich damals wirklich sauer und verbittert war, als Du nach dem, was Du mir angetan hast, so ungeschoren davongekommen bist. Aber der Reihe nach: Ich erinnere mich noch sehr gut an den 6. Juli 2008, Du wohl eher nicht, deshalb schildere ich Dir noch einmal, was geschehen ist. Es war der Tag, an dem in Hamburg Schlagermove war, und ich hatte Dienst in Harburg. Ich bin Polizeibeamter, musst Du wissen. Als ich gegen Mitternacht auf meinem Motorrad nach Hause wollte, sah ich diese zwei Frauen da stehen - an der Wilstorfer Straße. Dort stehen um diese Zeit selten Frauen allein auf dem Gehweg. Sie sahen mich an und winkten so merkwürdig, so, als ob sie dringend Hilfe bräuchten. Ich hielt an, erkundigte mich, ob ihnen etwas passiert sei. Die jungen Frauen kamen vom Schlagermove. Ich sah das an den Blumen in ihrem Haar. Plötzlich sagte die eine von ihnen "Oh nein, nicht schon wieder!" Nun ging es los. Du hast mich gewürgt, den Zündschlüssel weggenommen, mich auf die Straße geworfen und getreten, als ich am Boden lag. Als ich es schaffte, zur Wache zu rennen, bist Du geflüchtet. Nur die beiden jungen Frauen fanden wir, meine Kollegen und ich, später wieder. Sie haben Deine Identität nicht preisgegeben. Vielleicht hatten sie Angst vor Dir. Du bist ja wahrlich eine Erscheinung. Körperlich ein Riese. Mit Pranken und Stiernacken. Körperlich ...

Natürlich habe ich Dich angezeigt. Deine Freundinnen haben aber auch später gesagt, sie würden Dich gar nicht kennen. Ja, auch das hat mich wütend gemacht. Es hat einige Haltungen verändert. Ich weiß, dass Du ihnen kein Unbekannter warst. "Oh nein, nicht schon wieder!", rief ja eine der Frauen. Ich vermute, nein, inzwischen weiß ich es ja, dass eine der beiden lange unter Dir zu leiden hatte. Ich selbst habe die Tat rein äußerlich längst überwunden. Ich bin Sportler, weißt Du. Ich kann auch mal verlieren. Aber das, was auf dem Papier schlicht einige Straftaten sind, schädigt ja nicht nur den Körper. Es stellt auch im Kopf viel an, verletzt Gefühle und ändert die Einstellung zu vielen Dingen. Und das bleibt. Es ist noch immer da. Ich bin vorsichtiger geworden, skeptischer. Ängstlicher? Vielleicht auch. Am meisten aber macht mir zu schaffen, was knapp neun Monate nach diesem Juliabend passiert ist.

Eine junge Frau wurde mit 33 Messerstichen in einem Parkhaus getötet. Später nahm man Dich unter dringendem Tatverdacht fest. Der Fall ging durch die Zeitungen. Ein Kollege sagte zu mir: "Du, das ist doch der, der Dich damals umgehauen hat." Der Kollege hatte recht. Und die junge Frau, die jetzt tot ist, sie stand damals auf der Wilstorfer Straße mit einer Blume im Haar. Sie war Deine Ex-Freundin, Du ihr Stalker. Ihr Sohn, Du kennst ihn ja, wird jetzt bald zehn Jahre alt. Ich denke oft an den Jungen. Du auch?

Andre V., Polizeikommissar

Hallo Fahrraddieb,

ich weiß, für Dich war es nur ein altes Fahrrad. Ein rostiges Vehikel, mit dem Du vielleicht ein paar Kilometer gefahren bist, bevor Du es vermutlich achtlos auf den Gehweg, über eine Hecke oder in einen Teich geworfen hast. Aber weißt Du, dass Du mir so viel mehr geklaut hast als ein altes Fahrrad? Was es für mich bedeutete? Nein, das weißt Du nicht.

Schon als Kind saß ich auf diesem Rad und wurde von meiner Mutter geschoben. Meiner Mutter, die im Dezember 2007 gestorben ist. Auf diesem Fahrrad war sie, die nie einen Führerschein besaß, jahrelang unterwegs gewesen. Sie hatte es von ihrem ersten Kindergärtnerinnen-Gehalt gekauft. Später, als sie nicht mehr fahren wollte, fuhr ich auf dem Rad.

Bis zum 15. Mai 2009. Da zersägtest Du, Täter, in der Uhlandstraße das Schloss meines Fahrrades. Dass ich Dein Sägen in der Nacht sogar gehört habe, tut hier nichts zur Sache. Denn von Deiner Tat hat Dich das natürlich nicht abgehalten.

Ganz abgesehen von den Erinnerungen, die in meiner geliebten "Minna" steckten: Es ist, es war ein besonderes Fahrrad. Gebaut wurde es wohl so um 1960 in der DDR, in der ich aufgewachsen bin. Ein Auto hatte meine Familie nie. Wir haben alles mit Fahrrädern gemacht und bis heute habe ich keinen Führerschein. Und das ganz bewusst. Ich fahre Fahrrad.

"Minna" hatte also viele Kilometer in den Speichen. Minna (ja, ich weiß, es ist ungewöhnlich, dass Leute ihren Fahrrädern Namen geben, aber daran siehst Du auch, was mein Rad mir bedeutete), "Minna" also war seit Mitte der 80er-Jahre meine ständige Begleiterin. Auf ihr fuhr ich durch Potsdam, wo ich studiert habe, durch Berlin und Edinburgh, wo ich zeitweise gelebt habe. Und seit 1999 durch Hamburg.

Sie war ein sehr auffälliges Fahrrad, ein echtes Unikat. Mein Vater hat sie, die in der DDR-Manufaktur bei "Mifa" oder "Diamat" gebaut wurde, in leuchtendem Hellblau und Grau lackiert. Und ich weiß: Wenn man mich blind auf 100 verschiedene Fahrräder setzen würde, ich würde meine geliebte "Minna" erkennen. So unvergleichlich fuhr man auf ihr, so perfekt schaffte man jeden Hügel, auch ohne Gangschaltung.

Tja, mein lieber, nein, böser Täter. Vielleicht erkennst Du jetzt, dass selbst ein Bagatelldelikt, wie Du es begangen hast, tiefe Spuren hinterlassen kann. Zu Deiner Information: Ich habe mir ein neues Fahrrad gekauft. Es ist viel wertvoller als "Minna", aber ich würde jederzeit sofort mit Dir tauschen. Vielleicht willst Du das ja auch. Dann meld Dich doch beim Abendblatt!

Frauke Ohnholz, IT-Administratorin

Hallo Räuber,

Ihr habt nicht den Hauch einer Ahnung, was ich für eine Angst hatte. Lebensangst. Die kannte ich bis dahin nicht. Ihr seid in mein Fahrradgeschäft gestürmt, während ich mit meinem Mechaniker im Keller war. Ich hörte ein Poltern und bin nach oben gegangen. Da standet Ihr. Zwei Männer, die ihre Gesichter mit Ski-Masken verdeckten. Und ich fragte noch, ob ich etwas für Euch tun könne, weil ich überhaupt nicht nachgedacht habe. Nicht begriffen habe, was da eigentlich passierte. Einer von Euch stürmte mit einer Pistole auf mich zu und schrie etwas wie: "Überfall. Ruhig bleiben, sonst passiert was."

In der ersten Sekunde wollte ich die Waffe wegschlagen. Ich war schließlich körperlich überlegen. Doch ich erkannte, dass das blödsinnig gewesen wäre. Meine Ware kann man ersetzen, mein Leben nicht. Der Angreifer drückte mir die Pistole in die Nieren-Gegend und schubste mich zur Kellertreppe. Ich dachte, wenn die Waffe losgeht, dann gibt es ein großes Loch.

Im Keller rief ich den Namen meines Kollegen. "Tu nichts. Es ist ein Überfall." Hättet Ihr ihn entdeckt, Ihr hättet losgeballert. Das war meine große Sorge. Dann habt Ihr uns mit Panzerband die Hände auf den Rücken gefesselt und es auch um unsere Augen gewickelt. Es hat ewig gedauert, bis wir das klebrige Zeug wieder aus den Haaren hatten. Wir lagen bäuchlings auf dem kalten Kellerboden. Ich dachte: "Was soll der Scheiß. Es ist Montagmorgen. Hier ist überhaupt kein Geld in der Kasse." Ihr habt drei Mountainbikes mitgenommen - für 7500 Euro.

Später, als ich den Laden längst wieder aufgemacht hatte, bekam ich bei einigen Kunden Angst, dass sie mich ebenfalls überfallen könnten. Einmal war es sogar so schlimm, dass ich einen von ihnen nicht mehr beraten konnte. Da kam sie wieder hoch, die Lebensangst. Ich muss den Kunden total verwirrt vorgekommen sein. Schließlich bin ich zu einem Psychologen gegangen, weil ich damit nicht fertig wurde. Seine Freizeit kann man wirklich besser verbringen. Ein Jahr später bekam ich sogar kreisrunden Haarausfall. Da will man auch nicht immer drauf angesprochen werden. So sehr hat mich Euer Überfall mitgenommen, dass mein Körper rebellierte.

Ich habe sehr liberale Überzeugungen, stehe politisch eher links. Aber etwas hat sich geändert. Wenn ich heute höre, dass jemand eine schwere Kindheit hatte und deswegen Straftaten begeht, dann werde ich zum Hardliner. Was kann denn das Opfer dafür? Ihr Täter bekommt so viel Unterstützung, wenn ihr vor Gericht steht, lasst Eure Taten von Gutachtern erklären. Euch sollte so etwas auch mal passieren. Ihr sollt diese Ängste auch ausstehen. Damit Ihr erfahrt, was Ihr Euren Opfern antut. Was ich mir von Euch wünsche: dass Ihr Euch von ganzem Herzen bei mir entschuldigt. Aber die Hoffnung ist wohl vergebens.

Stefan Röper, Fahrradhändler

Hallo Stalker,

ich habe sehr lange nicht bemerkt, dass die Zahl Deiner Anrufe und SMS ein ungewöhnlich hohes Maß erreichten. Jeden Tag hast Du mich in meinem Büro angerufen. Das begann viele Jahre nach dem Ende unseres Verhältnisses. Ich habe Deine Anrufe zunächst gar nicht als störend empfunden. Im Gegenteil: Ich fand es anfangs toll, dass sich jemand um mich bemühte, mich umsorgte. Irgendwann war ich aber genervt von Dir. Du hast belangloses Zeug erzählt und warst überzeugt, dass wir noch eine Beziehung hätten. Ich sagte Dir, dass ich keine weiteren Anrufe von Dir bekommen möchte. Dein Gewäsch war lästig.

Zunächst hörte es ja auf. Doch nach kurzer Zeit begann es erneut. Schlimmer als zuvor. Du schicktest mir ordinäre SMS und Porno-Bilder auf meinen Rechner im Büro. Einmal zählte ich 37 SMS in zwei Stunden. Und eines Tages standest Du vor meiner Haustür. Ich hab Dich mit in die Wohnung genommen, weil ich Angst hatte, dass Du vor meinen Nachbarn eine Szene machen würdest. Dort hast Du mich belästigt, wurdest auf unangenehme Weise aufdringlich. Nur mit viel Mühe bin ich Dich wieder losgeworden.

Erst ein Bekannter öffnete mir die Augen. Er sagte, dass du ein Stalker seiest. Man riet mir, dass es das Beste sei, meine Nachbarn und das Büro über Dich zu informieren. Also sagte ich denen: "Ich werde von einem Stalker verfolgt und sexuell genötigt. Wenn Sie den Mann sehen, rufen Sie die Polizei." Zwar haben alle Beteiligten verständnisvoll reagiert. Aber hast Du irgendeine Ahnung, was mich das an Überwindung gekostet hat? Erst ein Anwalt, den mir der Weisse Ring vermittelte, hat Deinem Treiben ein Ende gesetzt. Er hat Dich darauf aufmerksam gemacht, dass man Deine Anrufe mit der unterdrückten Nummer zurückverfolgen kann. Du weißt jetzt, dass das, was Du mir angetan hast, strafbar ist.

Jetzt habe ich glücklicherweise Ruhe vor Dir. Aber vorbei ist es noch immer nicht. Mein Leben hat sich komplett verändert. Ich nehme jetzt einen anderen Weg nach Hause. Nur, damit ich sehe, ob Dein roter Mercedes mit dem schwarzen Dach in meiner Straße parkt. Das dauert zwar nur zwei Minuten länger als sonst, aber ich würde gern selbst darüber entscheiden, warum ich einen anderen Weg nehme. Früher habe ich mich gern schick angezogen, trug Röcke, Nylons und Pumps. Heute habe ich keine langen Fingernägel mehr, trage meine Haare kürzer, habe zehn Pfund zugenommen. Ich versuche alles zu tun, damit ich nicht aufreizend wirke. Ich will meinem Umfeld zeigen, dass ich nicht schuld bin. Das wird mir sogar unterstellt. Ich und schuld sein? Das ist doch verrückt. Eine neue Beziehung kann ich nicht eingehen. Am Ende ist der neue Mann genau so wie Du. Ich will mein Leben zurück!

Roswitha D., kfm. Angestellte