Die 46 Jahre alte Kinderbuchautorin lebt in Groß Borstel nach ihrer Façon. Ihr Haus erinnert an die Villa Kunterbunt.

Hamburg. Eigentlich fehlen nur der Kleine Onkel und Herr Nielson - dann wäre die Faszination der Villa Kunterbunt perfekt. Da es sich jedoch um die norddeutsche Variante dieses wundersamen Hauses voller Kinderträume handelt, tritt auch nicht Pippi Langstrumpf durch die Haustür, sondern Sylvia Heinlein. Auf dem Tablett trägt sie Rundstücke, Tomatensalat und Ziegenkäse in den Garten. Der alte Holztisch unter dem verkrüppelten Apfelbaum lädt ein zum Schwelgen.

"Hier leben gute Geister!", sagt Sylvia. Ganz im Ernst. Warum nicht, denkt sich der Gast und lässt den Blick schweifen. An den Ästen hängen Glockenspiele, verwitterte Steine und ein kleines Tonhäuschen, einen Stamm weiter thront ein Baumhaus mitsamt Strickleiter, darunter mümmeln die Kaninchen Toffi und Muckel am Löwenzahn. Abseits des Johannisbeerbusches steht eine verrostete Pumpe. Und nebenan befinden sich die Parzellen der Kleingartenkolonie Tarpenhöh; in der Ferne ist der Flughafenzaun zu sehen. Idylle pur in Groß Borstel. Hier lässt sich's leben - vor allem für eine Frau, die sich mit Leib und Seele Kinderbüchern verschrieben hat.

"Mein Reich!", sagt Sylvia Heinlein. Unter dem Apfelbaum, auf dem sie als Kind kletterte und später heiratete, kann sie heute ihre Seele baumeln lassen. Als Früchte kreativen Schaffens gedeihen Fantasiewesen wie Knitterfax, Grammler, Verdruseler oder Trulla, aber auch Ecke Nekkepenn, ein grimmiger Meergeist. Zum Leben erweckt in gut 20 Werken, die so schöne Namen tragen wie "Sammy jagt die Minimonster", "Meta und die außerordentliche Tante" und "Die Minimonster machen Murks".

Die Botschaft stets: Kind, du bist so, wie du bist. Du bist stark und gut, du kämpfst um das Ziel, du kannst fast alles, wenn du es nur willst. "Die Kleinen sollen sich bloß nicht einreden lassen, dass sie Tollpatsche sind", meint Sylvia. Diese Kunde trägt sie hinaus - in Kindergärten und Schulen. Wenn sich die 46-jährige Hamburgerin, von starkem Temperament gesegnet, zum Beispiel in eine "Monsterforscherin" verwandelt und gute Geister beschwört.

Ein bisschen auch als Spiegelbild ihres eigenen Lebens. Sylvia holt Kaffeenachschub aus der Küche nach draußen und berichtet, wie sie auf teilweise holprigen Umwegen ihr ganz persönliches Ziel erreichte. Motto: Leben so, wie ich es mag. Ganz gleich, was andere denken.

Erste Meilensteine, erzählt sie fröhlich, waren Abitur am Wirtschaftsgymnasium und Studium der Kunstgeschichte. Bis die Erkenntnis reifte: "Ich will nicht ins Museum." Also zog sie mit 26 Jahren hinaus in die Welt: Als Animateurin in Robinson-Clubs nach Kreta und Djerba. Alles inklusive, auch Clown, Kindertheater, Innendesign. Zurück in deutschen Landen, folgten 18 Monate Volontariat beim Radio in Dortmund, später Nachrichten und Beiträge für den NDR sowie Reportagen für Radio Hamburg. Allein im Ü-Wagen auf Tour durch die Hansestadt. Bis sich die kleinen Geister regten, immer intensiver. Erste Kinderbücher fanden Interesse und Verleger. Sauerländer, Carlsen, Rowohlt & Co. Jetzt kann sich die Autorin nach Herzenslust austoben. "Ja, ich mache, was ich will, lebe nach meiner Façon", sagt sie. Punkt.

Freiheit, die ihren Preis hat, zumindest wirtschaftlich. Paradiesvögel werden eben selten reich. Die Frau hatte den Mumm, sich gegen den Lack- und für den Turnschuh zu entscheiden. Manchmal ging sie barfuß ihren Weg. Und auch wenn es jetzt finanziell stabiler läuft, mussten zeitweilig Mark oder Euro dreimal umgedreht werden. Vor allem, als Sohn Berry, jetzt 14, zur Welt kam. Gut, dass die Familie zusammenhielt. Auch moralisch. "Gib nicht auf!", sagte Ehemann Manfred immer wieder. "Zieh dein Ding durch, du schaffst es."

Langer Atem, Wagemut und Kampfeslust wurden belohnt, den Minimonstern sei Dank: Ein eigenes Lesezeichen existiert bereits; Sticker und Spielfiguren sollen hinzukommen. Der Traum von einem Film und damit verbundene Erlöse sorgen für zusätzliche Motivation. Anpacken ist angesagt. Das macht Sylvia Heinlein.

Erst einmal zeigt sie ihr Haus, eine Art Villa Kunterbunt. Andere würden es als Behelfsheim einstufen. Nach dem Krieg vom Urgroßvater und Großvater aus Schutt und Straßenbahnschienen erbaut. Winzig und schlicht, dafür individuell, urig, mit Sammelstücken verziert, mit Efeu geschmückt. Ein kleiner Traum mit Charakter - und Seltenheitswert.

Innen beeindrucken Holzbohlen, alte Tische, ein grandioser Lehnsessel, Aussteuer der Großtante. Die guten Geister jedoch, sagt Sylvia, hausen unterm Dach. In einer Kemenate, in der nicht nur die Wände schräg sind. Ein Wandschrank ist zu sehen, davor ein antiker Sekretär, auf dem ein Laptop, Muscheln und Treibholz ruhen. Aus dem Minifenster fällt der Blick auf die Parzellenwelt. Noch mehr als die Bastion unter dem 100-jährigen Apfelbaum ist dieser Raum Brutstätte für fantastische Bücher und unkonventionelle Ideen.

Vor allem nachts, zwischen Mitternacht und vier Uhr, sprießen die besten Gedanken. "Nachts ruht die Welt. Dann habe ich Stille und Muße, dann geht's los."

Und wo sind sie denn nun wirklich, die guten Geister? "Das ist eine Frage des Gespürs", entgegnet sie. "Man muss sie fühlen können, dann werden sie lebendig." Ihr Credo: "An jeder Ecke lauern Abenteuer und Geheimnisse." Alles eine Frage der Betrachtung, des Wollens und Könnens. Wie so vieles im stimmigen Leben einer Persönlichkeit, deren Typus nicht von der Stange ist. Eine Frau, die alles andere als von guten Geistern verlassen ist, die absolut weiß, was sie will.

Und die gerne gibt. "Tolle Worte" heißt die Schreibwerkstatt für Menschen mit geistigem Handicap (nachzulesen unter www.tolle-worte.de). "Oft verfassen sie die stärksten Texte", weiß Sylvia Heinlein. Mal wahr, mal verrückt, fast immer herzerweichend. Erst kürzlich stand wieder eine Lesung auf dem Programm. In der "Bühne im Bürgertreff" inAltona, Gefionstraße 3. Sylvias Traum ist eine eigene Zeitschrift für "Tolle Worte". Zuzutrauen ist ihr das. Auch das.

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