Neustadt. Er ist gerade erst so richtig in Fahrt gekommen. Hat von seinen beruflichen Meriten erzählt und mit unverhohlenem Stolz von seiner körperlichen und geistigen Fitness geschwärmt. Die rund zehn Kilometer, die er täglich mit dem Fahrrad strampelt, die sechs bis acht Stunden, die er nach wie vor jeden Tag arbeitet, und das im Alter von 78, bei dem viele andere sich zufrieden und behaglich auf dem Sofa ausstrecken und ihren Ruhestand genießen. Dazu noch die 50 Jahre Erfahrung als Autofahrer, eine beträchtliche Zeit, in der niemals jemand durch sein Verschulden verletzt worden ist. Und nun das! Unglaublich.

Hier sitzt er und wird tatsächlich konfrontiert mit dem Vorwurf, er habe durch Unaufmerksamkeit einem anderen Verkehrsteilnehmer geschadet. Eine Unverschämtheit aus seiner Sicht, ein Affront geradezu. "Es ist für mich unfassbar, dass ich eine Strafe bekommen soll für eine Verkehrssituation, für die ich nichts kann", echauffiert sich der Hamburger, und die Empörung lässt die Lautstärke seiner Stimme anschwellen. "Es ist geradezu unverschämt, denn ich bin unschuldig."

Das sieht die Staatsanwaltschaft anders. Sie wirft Professor Dr. Bodo B.(Name geändert) im Prozess vor dem Amtsgericht vor, im Januar beim Abbiegen vom stark befahrenen Krohnstieg in eine Seitenstraße mit seinem Wagen einen Fahrradfahrer erfasst zu haben. Laut Anklage stürzte das Opfer und zog sich diverse Prellungen und Abschürfungen zu, zudem wurde ihm beim Aufprall ein Finger ausgerenkt.

Er kenne die Gegend gut, betont der 78-Jährige. "Es ist immer eine gedrängte Verkehrslage." Ganz vorsichtig habe er sich auf der Abbiegespur vorgetastet, habe dann von anderen Verkehrsteilnehmern ein Signal bekommen, "dass ich durchfahren kann. Dann sah ich aus dem Augenwinkel schräg von hinten, wie sich ein Radfahrer bewegte." Erhabe sofort angehalten, der Radler sei "wie im Schneckentempo" auf den Kotflügel seines Autos gefallen und dann über die Motorhaube hinuntergerutscht. Er habe darauf bestanden, dass die Polizei geholt werde, erzählt Prof. Dr. B. Und der Zusammenprall habe definitiv außerhalb des Radweges stattgefunden, betont er. Der Amtsrichter ist ein wenig irritiert. Laut Akte belegten Zeugenaussagen, dass sich die Kollision auf dem rot markierten Radweg ereignet habe. "Und wenn Sie sich auf dem Radweg bewegen, tragen Sie eine Mitschuld", stellt er die Rechtslage klar. Auch eine Unfallskizze der Polizei bestätige diese Version. "Die Skizze", schaltet sich da der Verteidiger ein, "ist ein Witz."

Doch auch das Opfer lässt keinen Zweifel daran, dass es auf dem Radweg angefahren worden sei. Ein wenig mühsam ist der sehr schlanke 87-Jährige zu dem Zeugenstuhl im Gerichtssaal getrippelt, langsam und bedächtig einen Fuß vor den anderen setzend. "Ich fuhr nur etwas schneller als Fußgängertempo, sehr vorsichtig", erzählt der Zeuge. "Das ist eine kritische Ecke da." Den von der Gegenfahrbahn kommenden Wagen habe er überhaupt nicht gesehen. "Auf einmal lag ich auf der Straße, aber Gott sei Dank ist nicht viel passiert", sagt er. Sein Fahrrad sei verbogen gewesen, die Verletzungen nicht gravierend und mittlerweile verheilt.

Auch eine unbeteiligte Zeugin bestätigt, dass beide Verkehrsteilnehmer langsam gefahren seien. Die Kollision sei ganz sicher auf dem Radweg erfolgt, beharrt die 29-jährige Frau.

Nach diesen Aussagen ist für den Amtsrichter der Fall klar. Es sei "erwiesen, dass der Radfahrer Vorfahrt hatte", weil die Kollision eindeutig im roten Bereich des Radweges stattfand, betont der Richter, der Bodo B. zu einer Geldstrafe von 3000 Euro wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Zwar verneine der Angeklagte jedes Eigenverschulden, fährt der Richter fort, "aber Sie waren tatsächlich unaufmerksam und tragen die Verantwortung, da beißt die Maus keinen Faden ab."