Manchmal klärt schon ein Blick auf den Kalender die Lage: Gestern war Russlands Nationalfeiertag. Vor 22 Jahren erklärte sich das Land nach dem Zerfall der Sowjetunion für unabhängig. Dem Riesenreich standen alle Wege offen, auch der in Richtung Freiheit und Demokratie. Den meisten Russen wichtiger ist bis heute der 9. Mai, der Tag des Sieges über Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg.

Diese Grundstimmung nutzt auch der Herr im Kreml. Wladimir Putin ist noch immer mit Abstand der angesehenste Politiker des Landes. Er meinte zwar in seiner Feiertagsrede mit Blick auf die Zehntausenden Bürger, die auf den Straßen gegen ihn demonstrierten, es sei wichtig, einander zuzuhören und zu respektieren. Aber es sei alles inakzeptabel, was dem Land schade und die Gesellschaft spalte. Was das wiederum ist, bestimmt er selbst. Und so bekommen Kritiker seines autoritären Regimes traditionell-russisch ihren festen Wohnsitz auf unbestimmte Zeit in Sibirien zugewiesen, werden oppositionelle Parteien von Wahlen ausgeschlossen, potenzielle Konkurrenten mit Prozessen überzogen und abgeurteilt, werden Bürgerrechtler mit Hausdurchsuchungen und Vorladungen traktiert, sind Demonstrations- und Versammlungsrecht verschärft worden. Die Medien erfreuen sich scharfer Zensur. Das Pseudo-Tauwetter seines Platzhalters Medwedew ist endgültig vorbei. Alles im Dienste einer einigen und kraftvollen Nation, versteht sich.

Putin gibt nicht nur den starken Mann, sondern er will auch der Welt das Bild von einem starken und einigen Russland vermitteln. Das größte Problem ist, dass er auch in seiner dritten Amtszeit keine andere Vision für diese nicht nur an Bodenschätzen, sondern auch an Kultur und Erfindergeist so reichen Nation hat als die einer grimmigen Großmacht. Dabei krankt sein ineffektiver Staat hinter dürftiger Kulisse an grassierender Korruption und an einer unfähigen Verwaltung, gerät der Nordkaukasus auch nach mehr als 15 Jahren massiver militärischer Gewalt immer weiter außer Kontrolle. Fantasie wird durch Repression ersetzt, das Land pendelt zwischen Erstarrung und Eruption.