... und die Stehplätze im Fußballstadion. Das Land hat drängendere Probleme als die flächendeckende Einführung von Plastikschalen

Uns geht es wohl zu gut. Als sei die Euro-Zone ein unbedeutendes Kraterfeld auf dem Mars, als sei Griechenlands Urnengang eine Sozialwahl der Unfallkassen oder Syrien ein neues Computerspiel, diskutieren die Deutschen über - schnallen Sie sich bitte an - die Gefahr von Stehplätzen in Fußballstadion. Seit dem Chaosspiel zwischen Hertha BSC und der Fortuna in Düsseldorf, als Berliner und Rheinländer nicht nur um den Bundesliga-Aufstieg, sondern offenbar auch um den Randaletitel kämpften, ist die Gesellschaft mal wieder alarmiert.

Und damit dieser Erregungszustand auch ja anhält, müssen alle Beteiligten immer aufgeregter aufeinander einreden und immer wirrere Forderungen aufstellen. Den Höhepunkt der Woche lieferte die Deutsche Polizeigewerkschaft, die verbal ohnehin gern draufhaut. Nach den jüngsten Ausschreitungen bei Fußballspielen will deren Chef Rainer Wendt durchgreifen. Die Stehplätze gehörten abgeschafft, die Zäune erhöht, und bei jeder Ausschreitung sollten für den Verein 100 000 Euro Strafe fällig werden. Und damit nicht genug: "Wem strenge Leibesvisitationen nicht passen, der soll vor dem Stadion bleiben müssen", sagte Rainer Wendt der "Neuen Osnabrücker Zeitung".

Da will die Politik nicht nachstehen. Lorenz Caffier, derzeit Vorsitzender der Innenministerkonferenz, sagte am Wochenende, die Abschaffung der Stehplätze - wie etwa in England - dürfe kein Tabu sein. Zuvor hatte er schon Gesichtsscanner vor Fußballstadien gefordert, um Gewalttäter fernzuhalten. Wenn es nicht so unsachlich wäre - derlei Droh- und Durchgriffspotenzial würde man sich manchmal auch im Kampf gegen Islamisten oder politische Extremisten wünschen.

Abrüstung tut not. Wir sollten die Kirche im Dorf und die Stehplätze im Stadion lassen. Der Fußball ist, das wird in den kommenden Wochen der Fußball-Europameisterschaft wieder mehr als deutlich werden, die schönste Nebensache der Welt. Mit einer nie da gewesenen Begeisterung stürmen die Fans die Stadien, die Fanmeilen, die Treffpunkte zum Rudelgucken. Der überwältigende Teil dieser Fußballanhänger bleibt friedlich: Sie jubeln, sie leiden, sei brüllen sich den Leib aus der Seele, sie liegen sich in den Armen und ja, manchmal raufen sie sich auch - die Haare. Natürlich gibt es Idioten, Kriminelle, Pyromanen. Aber Hunderttausende Bürger in den Stadien haben auch ein Bürgerrecht, sich wegen ihrer Leidenschaft weder kriminalisieren noch bevormunden zu lassen.

Weder muss man gefährliche Zäune errichten noch Bier verbieten, weder Scanner noch Sicherheitsschleusen errichten. Eine freie Gesellschaft muss Freiheit durchhalten - sie kann nicht vor jedem durchgeknallten Hooligan weichen. Welche Macht geben wir halbwüchsigen Bengalo-Barbaren oder volltrunkenen Bierbecher-Stoßern, wenn die Gesellschaft gleich zuckt und aufgeregt nach mehr Sicherheit ruft? Und komme man uns nicht mit dem Vorbild der Briten. Die haben ihre Stadien so radikal und antiseptisch gereinigt, dass die echten Fans von der Insel nun nach Deutschland pilgern. Um nicht missverstanden zu werden: Gewalt in Stadien ist ein ernstes Problem, und es nimmt zu. Diesem Problem müssen sich nicht nur die Vereine stellen, sondern jeder Fanvertreter und letztlich jeder Fan im Stadion selbst.

Man kann im Stadion durchaus mit Pyrotechnikern diskutieren und klarmachen, dass sie eine gefährliche Grenze überschreiten. Und man muss auf aggressive Fans einwirken - im Stadion geht das übrigens oft besser durch die eigenen Leute als mit Hundertschaften der Polizei. Gefragt ist einmal mehr Zivilcourage. Auch wenn Fußball mit seinen Emotionen manches Blut in Wallung bringt, hilft Beruhigung und Deeskalation weiter. Ich erinnere mich an einen unverbesserlichen Glatzkopf, der beim Public Viewing 2002 noch meinte, er müsse die erste Strophe des Deutschland-Liedes singen: Die wütende Reaktion der anderen Fans war so laut und deutlich, dass er sich trollte.

Das Gewaltproblem in den Stadien ist nun erste Aufgabe für Vereine und Fans und muss konsequent angepackt werden - zur Not mit langjährigen Stadionverboten. Erst wenn sie es nicht unter Kontrolle bekommen, sollte der Staat übernehmen. Denn auch Innenminister haben wirklich dringlichere Probleme.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne "Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt