Aufruf zum Teilnehmen: Am Sonnabend läuft die “Lange Nacht der Performance“. Der Zuschauer soll dabei ein aktiver Teil der Inszenierungen sein.

Hamburg. Die Theaterperformance wird von einem Teil des Publikums geliebt. Ein anderer steht ihr kopfschüttelnd gegenüber. Vor allem Besucher, die einen brav von A bis Z linear geführten Erzählstrang gewohnt sind, reagieren mit Befremden. Und weil in der Regel keine großen, verschachtelten Geschichten verhandelt werden, wittern sie gleich Verrat an der hehren Theaterkunst, gar Dilettantismus.

Die Ästhetik des Performativen hat dabei längst die Werkstattbühnen und Fabriken der Freien Szene verlassen. Sie ist etwa in den Arbeiten von Nicolas Stemann, René Pollesch oder Falk Richter Teil des bürgerlichen Stadttheaters. Von diesem willig als innovative Weiterentwicklung einverleibt. Das Live-Art-Festival, das auf Kampnagel läuft, hinterfragt nicht nur die Erzählweisen des auf der Bühne Dargestellten, sondern auch die Rolle des Zuschauers. Er ist nicht mehr nur passiver Konsument des Schönen und Wahren. Auch nicht Subjekt einer von einem allwissenden Autorengenie erdachten Läuterung.

Die Erregung, die die Ästhetik des Performativen in einigen Kreisen hervorruft, hat eine lange Geschichte. Die Performance "Lips of Thomas", die die jugoslawische Künstlerin Marina Abramovic 1975 in einer Innsbrucker Galerie aufführte, gilt als Geburtsstunde. Abramovic entledigte sich ihrer Kleidung, setzte sich an einen Tisch und leerte ein Kilo Honig mit einem Silberlöffel aus einem Glas. Dazu trank sie eine Flasche Rotwein, zerbrach das Glas in ihrer Hand und ritzte sich mit einer Rasierklinge einen fünfzackigen Stern in den Bauch. Anschließend geißelte sie sich selbst rückwärts zum Publikum gewandt mithilfe einer Peitsche und legte sich auf ein Kreuz aus Eisblöcken unter einen Heizstrahler, der ihre Wunde umso heftiger bluten ließ. Bis zum Abschmelzen des Eises konnte das Publikum nicht warten und befreite die Künstlerin aus ihrer misslichen Lage.

Abramovic unterlief gleich mehrere althergebrachte Konventionen. Sie schuf kein Werk, sie war ihr Werk. Sie füllte keine Rolle aus, sie stellte ihr nacktes Selbst ins Herz der Performance. Und sie nötigte den Zuschauer, aus seiner Passivität herauszutreten. Auch wenn der schon Dutzenden von Meuchlern bei Shakespeare auf der Bühne tatenlos zugeschaut hat, hier sah er sich zum Eingreifen genötigt.

+++ Tanztheater, Performance und Schlingensief-Film +++

Die Performerin ist heute längst eine Legende, der zuletzt Regisseur Robert Wilson in "The Life and Death of Marina Abramovic" im vergangenen Jahr beim Manchester International Festival ein Denkmal setzte. So drastisch wie in ihren Anfängen geht es heute nicht notwendig in jeder Performance zu. Aber mitdenken ist erlaubt. Mitfühlen und nicht selten auch mitmachen erwünscht. Dem Prinzip der Überforderung huldigt die Performance mit Lust.

Ob Showcase Beat Le Mot die Französische Revolution anhand eines verköstigten Coq au Vin verhandeln oder God's Entertainment bei einer Sightseeing-Tour die Hamburger an eigens installierte touristische Hotspots führen und ihnen Kommentare abnötigen. Ob Deufert und Plischke gemeinsam mit ihrem Publikum in ihren genreübergeifend angelegten Abenden Theater als Entstehungsort begreifen, wie zuletzt in "Songs Of Love And War" und Textschnipsel, Hörstationen und Memoryspiel montieren. Der Zuschauer ist nicht nur Teil, sondern maßgeblich Handelnder des Spektakels.

Die Macherinnen des derzeit laufenden Live-Art-Festivals auf Kampnagel, Nadine Jessen und Melanie Zimmermann, gehen sogar noch einen Schritt weiter. "Postspectaclism" haben sie die vierte Festivalausgabe überschrieben. Manch einer mag da endgültig aussteigen, den performative Ästhetiken zuvor schon verschreckt haben. In der "Langen Nacht der Performance" wollen die Macherinnen vor allem mithilfe der lokalen Szene das Echte, eine von Repräsentationszwängen radikal befreite Kunst auf die Spitze treiben. Produzenten und Empfänger der Kunst werden zu Beteiligten eines Festivals, das sich als gelebte soziale Praxis versteht. Ein Experiment, aus dem möglicherweise manch versandender, aber auch manch großer Moment entsteht.

Lange Nacht der Performance 9. Juni, ab 20.30, Live-Art-Festival noch bis zum 9. Juni, Kampnagel, Jarrestraße 20-24; www.kampnagel.de