Jeder Besuch eines führenden deutschen Politikers in Israel gleicht dem Tanz auf einer Rasierklinge - ein einziger Ausrutscher kann bereits böse Folgen haben. Zwei Generationen nach dem Untergang des NS-Regimes sind ganz normale Beziehungen zum jüdischen Staat noch immer undenkbar. Das ungeheure historische Gewicht des Holocaust mit seinen sechs Millionen Ermordeten lastet auch schmerzhaft auf den Schultern jener Politiker, die keinerlei Schuld an diesem monströsen Verbrechen tragen. Joachim Gauck ist für viele Deutsche ein Präsident der Herzen - und wird daher in Israel mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtet werden. Wenn er gleich nach der Ankunft in Jerusalem beteuert, Deutschland und Israel seien enger verbunden denn je, hat er damit leider unrecht, aber derlei Bekundungen gehören zu seiner Arbeitsplatzbeschreibung.

Tatsächlich und mit Recht macht sich Gauck große Sorgen um das Ansehen Israels, das in Deutschland nach Umfragen geradezu im freien Fall ist. Vielen Deutschen ist die kompromisslose Politik von Premier Benjamin Netanjahu - vor allem das rüde Vorgehen Israels in den Palästinensergebieten - unsympathisch. In der Tat ist diese Regierung nicht eben ein Glücksfall für Israel. Aber auch ein liberalerer Premier könnte nicht ignorieren, dass die Hälfte der palästinensischen Führung mit der Hamas einer terrorgeneigten Organisation angehört, die den Anspruch auf die Vernichtung Israels nie aufgegeben hat.

Und auch eine andere Jerusalemer Regierung müsste ebenso entschieden auf existenzielle Bedrohungen reagieren. Wenn ein Staat wie Iran, dessen Präsident und oberster geistlicher Führer erklärtermaßen die Zerstörung Israels befürworten, in den Verdacht gerät, Atomwaffen samt Trägersystemen zu entwickeln, darf Israel nicht tatenlos bleiben. Israels Kerngebiet ist kleiner als Mecklenburg-Vorpommern, das Land kann es sich nicht leisten, militärische Konflikte auf seinem eigenen Territorium auszutragen oder zum Ziel von Atomraketen zu werden.

Es ist das Credo dieses Volkes, niemals wieder zum wehrlosen Opfer von Tyrannen zu werden. Aus der Lehre von Auschwitz - und nicht mit unmotivierter Aggressivität erklärt sich die überlebensnotwendige Vorwärtsverteidigung des jüdischen Staates, die vielen Deutschen missfällt. Kulturell, intellektuell, politisch und mentalitätsbedingt ist die Demokratie Israel uns im Übrigen tausendmal näher als irgendein anderes Land im Nahen und Mittleren Osten. Viele Deutsche entrüsten sich, wenn Israel Bombenangriffe fliegt - haben aber monatelang dazu geschwiegen, dass das jüdische Volk zuvor tagtäglich Opfer von Raketenangriffen war.

Der abgeflaute Sturm um das Israel-kritische Gedicht von Günter Grass dürfte den Besuch von Joachim Gauck nur noch matt streifen. Dieses kuriose Werk, in dem Israel als Bedrohung des Weltfriedens und Irans Präsident als Maulheld dargestellt wurde, war ja auch nicht antisemitisch, sondern einfach nur bestürzend weltfremd. Wenn Gauck nunmehr erklärt, Nationalsozialismus und Stalinismus seien ähnlich verbrecherische Regime gewesen, dann wird man ihm das in Israel mit Blick auf seine ostdeutsche Biografie wohl nicht als Relativierung des Holocaust übel nehmen. Der Auftakt der Gauck-Visite darf vielmehr als glänzend gelungen bewertet werden; auch in Israel erkennt man offenbar, dass dieser Mann meint, was er sagt.

Man kann allerdings darüber streiten, ob der erste Israel-Besuch des neuen deutschen Staatsoberhauptes gleich auch noch den Palästinensergebieten gelten musste. Für die Menschen dort ist das fraglos eine wichtige Geste. Gauck sollte in Jerusalem aber sehr deutlich machen, dass damit für Deutschland keine politische Gleichgewichtigkeit zwischen Jerusalem und Ramallah hergestellt wird.