Im Bundeskabinett stehen noch so manche Minister unter dem Verdacht zu schwächeln oder sich egoistisch zu verhalten

Die Betroffenheit über die Entlassung von Norbert Röttgen als Umweltminister wird in der CDU noch lange nachhallen, die Sehnsucht nach "ein bisschen mehr Menschlichkeit" (Wolfgang Bosbach, CDU-Bundestagsabgeordneter) wird bleiben. Andererseits wird sich auch das Verständnis dafür durchsetzen, dass Angela Merkels Handlungsweise durchaus den Gesetzmäßigkeiten des politischen Betriebes entsprach. An der Begründung von Röttgens Rauswurf werden künftig allerdings auch andere Personalentscheidungen und Verhaltensweisen von Spitzenpolitikern gemessen werden. Röttgens Rauswurf wird in den Parteien und in der Öffentlichkeit zum Maßstab werden.

Röttgen musste gehen, weil er sich im NRW-Wahlkampf nicht völlig in den Dienst seiner Partei stellte, sondern für seine persönliche Zukunft eine "Privatentscheidung" (Horst Seehofer) traf. Delikt: Egoismus. Weil deshalb die Wahlniederlage so besonders deftig ausfiel, traute die Kanzlerin ihm nicht mehr zu, die Energiewende politisch durchsetzen zu können. Delikt: Schwäche.

Egoistisches Verhalten, das der gemeinsamen Sache schadet und zu einem politischen Schwächeanfall des Egoisten führt - das hat es in der schwarz-gelben Koalition doch schon vor Röttgen gegeben! Guido Westerwelle brachte, etwa durch seine Ausfälle gegen Hartz-IV-Empfänger ("spätrömische Dekadenz"), sowohl die Regierung als auch seine Partei in Misskredit, er musste den FDP-Vorsitz abgeben. Trotzdem behielt ihn Merkel als bedeutungslosen Außenminister.

Vergleicht man die Treue und Großzügigkeit gegenüber Westerwelle mit der Röttgen-Entscheidung, muss sich Merkel vorhalten lassen, mit zweierlei Maß zu messen. Und die Vermutung drängt sich auf, dass sie ihre im Grundgesetz festgelegten Kanzler-Rechte nur dann schonungslos anwendet, wenn der Delinquent in der eigenen Partei ist. Beim Koalitionspartner FDP hat sie sich nicht getraut. Bei der Schwesterpartei CSU würde sie vermutlich ebenfalls zurückzucken.

Im Bundeskabinett stehen noch so manche Minister unter Egoismus- und/oder Schwäche-Verdacht. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen etwa drängt sich immer wieder rücksichtslos in die Zuständigkeiten von Familienministerin Kristina Schröder, was bei der zu fortgesetzter Schwäche führt. Auch Innenminister Hans-Peter Friedrich müsste sich gemessen am Röttgen-Maßstab fragen lassen, ob ihm die erfolgreiche Bekämpfung von rechtsradikalem Terror und Gewalt in Fußballstadien zuzutrauen ist. Oder Daniel Bahr, ob er das Gesundheitswesen in den Griff kriegen kann.

Auch die drei Parteichefs in der Koalitionsspitze müssen ins Grübeln kommen, wenn sie den Röttgen-Maßstab an sich selbst anlegen. Und erwägen, sich selbst rauszuwerfen. CSU-Chef Horst Seehofer, der Röttgen in aller Öffentlichkeit fertiggemacht hat, ist vermutlich selbst einer der größten politischen Egoisten im schwarz-gelben Lager. Und FDP-Chef Philipp Rösler gilt auch in seiner eigenen Partei vielen als personifizierte Schwäche. Und selbst Angela Merkel muss immer wieder überprüfen, ob ihr ganz auf die eigene Person zugeschnittener Führungsstil der CDU und der Bundesregierung zugutekommt, weil sie dadurch durchsetzungsfähig ist und von den Wählern als Kanzlerin geachtet wird. Oder ob sie am Ende doch Schaden riskiert, wenn sie die Macht ganz bei sich konzentriert. In einigen Medien war zu lesen, dass Merkel Röttgen im entscheidenden Gespräch vor dem Rauswurf bedeutet habe: "Jetzt geht es um mich." Ein Satz, der zwiespältige Gefühle aufkommen lässt.

Auch die Oppositionsparteien haben allen Grund, den Röttgen-Maßstab zu beachten. Egoismus, der dem gemeinsamen Ziel schadet und zu Schwäche führt - das müssen die Herren der SPD-Troika bei der Benennung des Kanzlerkandidaten vermeiden.

Die Grünen sind schon längst dabei, sich durch das Gerangel um die Spitzenkandidatur selbst zu schwächen. Und die Linkspartei ist vor lauter Egoismus in ihrer Existenz bedroht.

Gut, dass der Bundespräsident nur Regierungsmitglieder abberufen kann - nicht aber Parteipolitiker. Sonst gingen ihm wohl bald die Entlassungsurkunden aus.