Die frühen Stadtansichten entstanden kurz vor und nach dem Großen Brand von 1842. Der Fotograf Werner Bokelberg hat sie gesammelt und veröffentlicht sie jetzt

Eine unverfälschte und doch fremdartig wirkende Welt tut sich vor unseren Augen auf. Dabei ist es unsere Stadt - Hamburg, allerdings mitten im 19. Jahrhundert. Der Große Brand des Jahres 1842 hat ein Viertel des Stadtgebiets verwüstet. In den Quartieren, die verschont blieben, leben damals etwa 350 000 Menschen.

Vieles wird noch mit Booten erledigt, die Handelsware über Kanäle und Fleete aus dem Hafen in die Stadt und die Speicher befördern: Marktgemüse, Fisch, Salz, Hanf und Holz. An den Duckdalben im Niederhafen vorm Baumwall liegen Dutzende Vollschiffe, Schoner und Barken aus aller Welt vor Anker. Die wohlhabende Handelsmetropole Hamburg ist nach Berlin und Wien die drittgrößte Stadt im Deutschen Bund, aber sie hat die große Zuwanderung vom Lande noch vor sich.

Es gibt nur eine Handvoll Männer in der Stadt, die in diesen Anfangsjahren der Fotografie das neue Verfahren beherrschen, "mit dem Licht zu zeichnen". Einer von ihnen heißt Charles Fuchs. Er arbeitet mit dem sogenannten Talbot-Verfahren, einer Schlüsseltechnologie der Fotografie, da man - was allerdings sehr aufwendig ist - beliebig viele Abzüge vom Negativ produzieren kann. Leider fehlt den Aufnahmen jegliche Dynamik; kein Wunder bei drei- bis fünfminütiger Belichtungszeit, und grobkörnig sind die Bilder auch. Daher müssen manchmal Kunstmaler ein bisschen nachhelfen ...

Aber die Fototechnik verändert sich rasant. 1871 gelingt dem Engländer Richard Leach Maddox die Entwicklung der fotografischen Trockenplatte. Sie besitzt eine Silberbromid-Gelatine-Schicht, die in der Empfindlichkeit der bis dahin gebräuchlichen Nassplatte entspricht. Der Fotograf kann jetzt aber beliebig viele Trockenplatten herstellen und muss nicht mehr seine komplette Dunkelkammer mit sich herumschleppen.

Und genau in diesem Jahr hat dann ein unbekannter Dezernent in der Hamburger Baudeputation die fixe Idee, Hamburgs Stadtbild fotografisch zu katalogisieren. Man will für die Nachwelt dokumentieren, welche Bauwerke der Neugestaltung des Hamburger Freihafengeländes geopfert werden müssen. Dieser behördliche Großauftrag wird von einem der fleißigsten Foto-Topografen jener Tage angenommen: Georg Koppmann. Bis zu seinem Tod 1909 wird der gewissenhafte Dokumentar weit mehr als 10 000 Straßen, Plätze, Fleete und Häuser abgelichtet haben. Viele Motive werden als Ansichtskarten gedruckt.

Es soll noch gut weitere 100 Jahre dauern, bis der Fotograf und Sammler Werner Bokelberg, heute 75, die historischen Hamburger Ansichten wiederentdeckt und 48 ausgewählte Motive als Faksimile-Postkarten veröffentlicht (für 19,90 Euro im Buchhandel). Bokelberg hat von 1962 bis 1972 für den "Stern" unter anderem Pablo Picasso, Salvador Dalí, Brian Jones, Andy Warhol, Romy Schneider, Uschi Obermaier und die 68er-Bewegung porträtiert, ist einer der bekanntesten deutschen Werbefotografen und kommt viel in der Welt herum.

So beschränkt sich seine Sammelleidenschaft bald nicht mehr auf Hamburg: Inzwischen kann man auch durch die historischen Straßen von Berlin, Dresden, Frankfurt, Hannover, Wien, Paris und interessanterweise auch von St. Tropez flanieren.

Was Bokelberg besonders an den alten Fotos fasziniert: Sie erinnern ihn an "ethnografische Feldstudien in dunklen Erdteilen", sagt er, "denn es findet sich keine gestellte Szene, keine Regieanweisung und auch kein Programm. Wo Menschen auf den Bildern auftauchen, sind sie vor ihre Häuser, ihre Läden, ihre Werkstätten hinausgetreten wie Schildwachen vor ihr Schildhäuschen."

Am Butenkajen etwa sammeln sich Anwohner, Arbeiter und Kinder, um den Mann mit dem Apparat zu bestaunen. Weitere Stadtszenen werden folgen, aus jenen fernen Zeiten, als noch der Mensch das Maß aller Dinge war.