Deutschlands Rolle und die Zukunft des Bündnisses bleiben beim Chicago-Gipfel unklar

Das uncharmante Etikett "verlorene Nation" dürfte man vornehmlich im Zusammenhang mit politisch und wirtschaftlich gescheiterten Staaten wie Somalia oder auch Afghanistan erwarten. Dass eine der einflussreichsten Denkfabriken der USA, der Atlantic Council, ausgerechnet Deutschland mit seinem weltweit erfolgreichen Modell als "lost nation" tituliert, ist schon starker Tobak.

Genüsslich wurde diese Einstufung auf dem Nato-Gipfel in Chicago herumgereicht. Den US-Denkern ging es um die verlorene Fähigkeit der Bundesrepublik, eine militärisch entscheidende Rolle innerhalb der Atlantischen Allianz spielen zu können.

Deutschland, das ist richtig, ist heute gemessen an anderen maßgeblichen Staaten der Erde ein militärischer Zwerg. Das geht allerdings nicht zuletzt auf die Ängste der europäischen Partner in Ost und West zurück, die vor der deutschen Wiedervereinigung auf massive Abrüstung drängten, weil sie mitten in Europa die Entstehung eines Militärgiganten aus Bundeswehr und NVA befürchteten. Umzingelt von Freunden, setzt Deutschland seitdem militärpolitisch auf das Prinzip "ein bisschen schwanger". Mit einer chronisch unterfinanzierten Armee beteiligt man sich dennoch seit über einem Jahrzehnt am Krieg in Afghanistan. Und weil man partout verdrängen wollte, dass man Krieg führt, erhielt die Bundeswehr nicht die schweren Waffen, die sie dort benötigt hätte - ob Kampfhubschrauber oder Panzerhaubitzen.

Deutschland, das den Ersten Weltkrieg teilweise und den Zweiten zur Gänze verschuldete, will eigentlich gar nicht mehr Krieg führen. Unsere Partner erinnern uns auch ständig mahnend an den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Schuld - nur wenn es um Deutschlands zu dürftigen Militärbeitrag geht, heißt es plötzlich: Nun vergesst das mal mit eurem Unbehagen, ist doch schon fast 70 Jahre her.

Die Frage muss grundsätzlich erörtert werden, welchen Auftrag die Nato heute noch hat und welche Aufgaben Deutschland darin leisten will. Soll die Allianz auch künftig Billionen an Steuergeldern etwa in Afghanistan versenken und Tausende ihrer Soldaten opfern, um Menschen zu Demokratie, Pluralismus und sauberer Staatsführung zu veranlassen, die gar nicht daran denken, so etwas einzuführen? Soll Deutschland weiter jährlich Hunderte Millionen in ein superkorruptes Land pumpen, dessen Mächtige das Geld in Steuerparadiese umleiten, während hier Patienten auf Krankenhausfluren liegen und Schulstunden ausfallen, weil das Geld fehlt?

Die Nato versucht sich in der Quadratur des Kreises: Mit immer weniger Geld soll mehr militärische Leistung erbracht werden. Zur Erzielung größerer Effizienz knabbert sie nun gar am lästigen Parlamentsvorbehalt der Deutschen. Hier ist für Berlin Obacht geboten. Zwar ist es in manchen Fällen Unsinn, einzelne deutsche Spezialisten aus Nato-Einsätzen abzuziehen, an denen sich die Bundesrepublik nicht beteiligen will. Aber die von den Verfassungsvätern gewollte Mitsprache des Bundestages bei Kriegseinsätzen darf nicht untergraben werden.

Besonders ärgerlich ist die verfahrene Lage bei der Raketenabwehr. In Washington wie in Moskau ist der Wille zur notwendigen Kooperation und zum Kompromiss bestürzend gering ausgeprägt. Konservative Eliten in den USA und in der Demokratur Russland verharren im Feindbild des Kalten Krieges und blockieren jede Bewegung. Dabei zwingt die massive Aufrüstung von unberechenbaren Staaten wie dem Iran auch Europa zu Abwehrmaßnahmen. Und Moskaus Sorgen müssen ernst genommen werden. Wenn der US-Präsidentschaftskandidat Mitt Romney in Russland den gefährlichsten Feind des Westens wittert, verkennt er die Tatsachen - auch jene, dass in Europa sicherheitspolitisch wenig ohne Russland und ganz wenig gegen Russland geht.