Verleger Axel Springer im Visier der RAF: Vor 40 Jahren, am 19. Mai 1972, gingen zwei Bomben im Springer-Haus hoch. Das Abendblatt erinnert sich.

Wieder so ein Spinner, denkt die Telefonistin, als sie an diesem Freitagnachmittag um 15.36 Uhr einen jungen Mann am Apparat hat, der seinen Namen nicht nennt. "In 15 Minuten geht bei Ihnen eine Bombe hoch", sagt er und legt auf. Die Telefonistin nimmt kopfschüttelnd den nächsten Anruf entgegen, anonyme Beschimpfungen und Drohungen hat sie schon oft gehört. Eine Minute später nimmt die Kollegin einen ähnlichen Anruf an. Ein Mann mit süddeutschem Zungenschlag sagt in rüdem Ton: "In 15 Minuten geht eine Bombe hoch. Räumt sofort das Haus, ihr Schweine."

Mit dem Haus ist das Hamburger Springer-Hochhaus an der Kaiser-Wilhelm-Straße gemeint, wo nicht nur unter anderen die Redaktionen von Hamburger Abendblatt und "Bild" untergebracht sind, sondern im 12. Stock auch das Büro des Verlegers Axel Springer. Irgendetwas an der Stimme des ersten Anrufers erscheint der Telefonistin dann doch merkwürdig. Sollte es diesmal kein Spinner sein? Sie ruft den Sicherheitsbeauftragten der Innenverwaltung an. Aber als er Alarm auslösen will, ist es schon zu spät.

An diesem 19. Mai 1972 arbeiten etwa 3000 Menschen in dem Gebäude, in Redaktionen, Korrekturen, Layout, Setzerei, Sekretariaten, Fotolabors, Verlagsmanagement, Vertrieb und Werbung. Viele sind mit ihren Gedanken schon beim bevorstehenden Pfingstwochenende, als 15.41 Uhr das Hochhaus von einer gewaltigen Explosion erschüttert wird.

Die vier Kilogramm schwere Rohrbombe detoniert in einem an der Fuhlentwiete gelegenen Zwischentrakt des dritten Stockwerks. Direkt nebenan arbeiten Korrektoren. Die Wucht der Explosion wirft Wände um und reißt ein Loch in die Außenfassade. Schreibtische stürzen um, Verletzte liegen am Boden, auch in den Nachbarhäusern gehen Fensterscheiben zu Bruch.

Um 15.45 Uhr kracht es erneut, wieder im selben Gebäudeteil, diesmal im sechsten Stock, wo die Bombe in der Damentoilette versteckt worden war. Menschen schreien, haben Todesangst. Zum Glück bricht keine Panik aus.

Zu dieser Zeit ist Wolfgang Müller, der Assistent von Springer-Vorstandschef Peter Tamm, gerade auf dem Rückweg vom Jungfernstieg zum Verlag. Den Knall hat er nicht gehört, aber dass irgendetwas passiert ist, spürt er: Als er von den Großen Bleichen auf den heutigen Axel-Springer-Platz einbiegt, kommen ihm schon die ersten Mitarbeiter entgegen, die das Haus schnell verlassen haben. Dann sieht Müller das Loch, das die Bombe in die Fassade gerissen hat. Im ersten Moment denkt er: Das ist ein Unglück, eine Gasexplosion vielleicht. Bald darauf ist ihm klar, dass es ein Anschlag sein muss.

Schon seit Jahren ist die Stimmung aufgeheizt. Es gibt Proteste gegen den Verlag, Kampagnen, Demonstrationen. Spätestens seit der Westberliner Polizist Karl-Heinz Kurras am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg am Rande einer Demonstration gegen den Schah von Persien erschossen hat, ist Springer ein Feindbild.

Dafür gibt es viele Gründe. Springer hat die Motive der Studentenbewegung von Anfang an nicht verstanden. Er sieht in ihnen nicht junge Leute, die sich gegen autoritäre Strukturen auflehnen, sondern nur vom Osten gesteuerte destruktive Kräfte. Und die Studenten sehen in Axel Springer nicht den Unternehmer, der für Demokratie und Gerechtigkeit eintritt, sondern einen reaktionären Medienzar, einen Ewiggestrigen. Mit seiner Medienmacht avanciert er schnell zum Lieblingsfeind der 68er-Bewegung.

Dass Kurras IM der Stasi ist, die tatsächlich im Hintergrund ihre Fäden zieht, weiß damals noch niemand. Aber auch ohne DDR-Beteiligung hätte sich der Konflikt hochgeschaukelt. 1970 haben Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und weitere Mitstreiter die Rote Armee Fraktion (RAF) gegründet. Seitdem wird nicht mehr nur demonstriert und boykottiert, werden nicht mehr nur Autos angezündet und Fenster eingeworfen. Die RAF schießt, entführt, bombt und mordet. Und sie hat Axel Springer in ihrem Visier.

Aber Springer hält sich an diesem 19. Mai nicht in Hamburg auf. Und Peter Tamm, der neben ihm als besonders gefährdet gilt, sitzt zur Zeit des Anschlags in einem Geschäftsflugzeug mit Ziel Locarno. Er hört die Nachricht von dem Bombenanschlag erst, als die Maschine gegen 16.30 Uhr auf dem Aeroporto cantonale di Locarno ausgerollt ist. "Auftanken und sofort wieder zurück nach Hamburg", sagt Tamm.

Axel Springer ist fassungslos, als er die Nachricht vom Bombenanschlag erhält. Jetzt ist das eingetreten, wovor er sich schon seit Jahren fürchtet. "Gibt es Todesopfer?", fragt er - und ist dann erleichtert, dass das offenbar nicht der Fall zu sein scheint.

Noch vor 16 Uhr sind die ersten Rettungskräfte eingetroffen. Polizei, Feuerwehr und Rettungswagen stehen am Springer-Hochhaus, dessen Umgebung bereits abgesperrt ist. Das Haus und auch das Nachbargebäude der "Welt" werden geräumt. Ärzte kümmern sich um die 23 Verletzten, unter ihnen acht Korrektoren und vier Setzer. Sie werden erstversorgt und dann ins Hafenkrankenhaus und ins UKE gebracht.

Inzwischen hat die Geschäftsleitung einen Krisenstab eingerichtet, der unter anderem die Fortsetzung der Redaktionsarbeit in Ausweichquartieren organisiert. Tatsächlich werden am nächsten Tag das Abendblatt und die anderen Zeitungen des Verlags erscheinen, wenn auch in Notausgaben.

Kurz nach 18 Uhr ordnet die Polizei-Einsatzleitung die Durchsuchung des Hauses nach weiteren Sprengsätzen an. Gegen 18.35 Uhr werden die Kriminalbeamten fündig: in einer Mülltonne vor dem Maschinenraum der Rotation. Die dritte Rohrbombe befindet sich unter Putzlappen versteckt in einem Pappkarton für Scharlachberg-Weinbrand. Jetzt müssen auch die letzten Personen das gefährdete Haus verlassen. Es dauert knapp anderthalb Stunden, dann hat der Sprengstoffexperte des BKA die Bombe entschärft. Inzwischen ist auch Peter Tamm vor Ort. Um 23.30 Uhr gibt die Polizei Entwarnung. Kurz vor Mitternacht sind die Setzer wieder an der Arbeit. Die Mitarbeiter stehen zwar noch unter Schock, aber die aktuellen Zeitungen wollen sie trotzdem produzieren.

Wie sehr sie in dieser Nacht gefährdet sind, stellt sich erst am nächsten Tag heraus. Kurz nach acht Uhr morgens erweist sich, dass die Polizei das Gebäude nicht gründlich genug durchsucht hat. Eine Putzfrau entdeckt die vierte Bombe, die im 12. Stock unweit des Verlegerbüros hinter einem Sessel versteckt ist. Ab dem 7. Stockwerk wird das Haus erneut geräumt, bis ein Sprengstoffexperte auch diese Bombe entschärft hat. War das nun alles?

Tamm und seine Mitarbeiter können es nur hoffen. Handwerker rücken an, um mit der Beseitigung der Schäden zu beginnen. Trotzdem wird noch einmal gründlich gesucht. Um 13.50 Uhr sitzt Tamm mit Führungskräften noch beim Mittagessen im Casino im 13. Stock, da kommt die Nachricht von der fünften Bombe, die eben in der Herrentoilette im 12. Stock gefunden worden ist. "Wir essen noch das Dessert", ordnet Tamm an, der auf jeden Fall eine Panik vermeiden will. Schließlich verlassen die Führungskräfte das Casino über eine Nottreppe. Diesmal muss ein Experte aus München angefordert werden. "Das war ein bescheidener Mann, der wollte mit dem Zug fahren und ahnte nicht, dass bei uns jede Minute zählte", erinnert sich Tamm. "Er hat nicht schlecht gestaunt, als wir ihn mit einer Privatmaschine nach Hamburg fliegen ließen."

Um den Druck einer möglichen Detonation abzumildern, soll eine Mauer aus Zeitungsstapeln um den Sprengkörper errichtet werden. Noch immer sind weder die Fahrstühle noch die Paternoster in Betrieb. Deshalb bilden Verlagsmitarbeiter - vom Vorstandschef bis zum Drucker - über zwölf Stockwerke eine Menschenkette und werfen sich die Zeitungsstapel zu. "Das war ein enormes Gemeinschaftsgefühl. Die Gefahr hat uns zusammengeschweißt, das betraf die gesamte Belegschaft", sagt Tamm rückblickend. Um 23.10 Uhr hat der Münchner Sprengstoffexperte schließlich die letzte Bombe entschärft.

Zu dieser Zeit hat die Legendenbildung längst begonnen. Bei "Bild", der "Süddeutschen Zeitung" und den Nachrichtenagenturen dpa und UPI ist ein Bekennerschreiben der RAF eingegangen, mit dem die Täter bewusst auf Desinformation setzen. Darin heißt es: "Gestern, am Freitag, den 19. Mai um 15.55 Uhr sind zwei Bomben im Springer-Hochhaus Hamburg explodiert. Weil trotz rechtzeitiger und eindringlicher Warnungen das Haus nicht geräumt worden ist, sind dabei 17 Menschen verletzt worden ..." Und weiter: "Springer ging lieber das Risiko ein, dass seine Arbeiter und Angestellten durch Bomben verletzt werden, als das Risiko, ein paar Arbeitsstunden, also Profit, durch Fehlalarm zu verlieren. Für die Kapitalisten ist der Profit alles, sind die Menschen, die ihn schaffen, ein Dreck. Wir bedauern, dass Arbeiter und Angestellte verletzt worden sind."

Das Schreiben endet mit den Sätzen "Enteignet Springer! Enteignet die Feinde des Volkes!" Unterzeichnet ist es mit "Kommando 2. Juni". Das Datum bezieht sich auf Benno Ohnesorgs Todestag. "Unwahr!", lautet die knappe Überschrift in einer Sonderausgabe der Hauszeitschrift "Springer aktuell", die am 25. Mai über dem Faksimile des Bekennerschreibens zu lesen ist. "Alle hier aufgestellten Behauptungen sind blanke Lügen und nackter Zynismus nach dem Motto 'Der Ermordete ist selber schuld'." In der Ausgabe wendet sich Axel Springer selbst an seine Mitarbeiter: "Nach den hinterhältigen und gemeinen Anschlägen vom 19. Mai galten meine ersten Gedanken den Verletzten. Wir werden alles nur Mögliche tun, den Betroffenen zu helfen, ihren Familien beizustehen, äußere Not von ihnen fernzuhalten. Heute möchte ich allen, die an den Pfingsttagen in Hamburg tätig waren und mehr als ihre Pflicht getan haben, danken: für ihre Besonnenheit, ihre Umsicht und ihre Einsatzbereitschaft."

Für die RAF erweist sich der Hamburger Anschlag als Desaster. Dass nicht hochrangige Verlagsmanager getroffen, sondern vor allem einfache Arbeiter gefährdet und verletzt wurden, stößt selbst in der Unterstützerszene auf Unverständnis, ebenso die Tatsache, dass die telefonischen Warnungen so spät kamen, dass es unmöglich gewesen wäre, 3000 Menschen zu evakuieren.

Knapp zwei Wochen nach dem Attentat werden am 1. Juni die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe in Frankfurt gefasst. Am 7. Juni verhaftet die Polizei Gudrun Ensslin in Hamburg, am 15. Juni Ulrike Meinhof in Langenhagen bei Hannover. Damit sind die mutmaßlichen Drahtzieher des Anschlags unerwartet schnell festgenommen worden.

Gerhard Müller, der zusammen mit Ulrike Meinhof verhaftet wurde, hat bei seinem Verhör im Bundeskriminalamt ausgesagt, Meinhof habe die Schlüsselrolle bei dem Anschlag gespielt. Sie sei kurz vorher nach Hamburg gekommen, habe die Bomben in Empfang genommen und auch die Bekennerschreiben verfasst. Allerdings waren auch Baader, Meins, Raspe und Ensslin an der Planung beteiligt.

Ulrike Meinhof wird vier Jahre später, am 9. Mai 1976, von Vollzugsbeamten tot in ihrer Zelle im Gefängnis Stuttgart-Stammheim gefunden. Sie hatte sich mit einem Handtuch erhängt.

Peter Tamm und Wolfgang Müller haben den 19. Mai 1972 in lebhafter Erinnerung. "Ich denke noch an das geräumte Hochhaus, das unwirklich wirkte. Wo sonst Geschäftigkeit herrschte, war alles gespenstisch leer", sagt Müller nachdenklich. Und Peter Tamm meint: "Für mich war das Wichtigste der Zusammenhalt und die Solidarität unter den Mitarbeitern. Damit haben die Terroristen das Gegenteil von dem erreicht, was sie eigentlich wollten."

Die Bilanz des Anschlags: insgesamt 36 Verletzte und 336 000 Mark Sachschaden. Wäre das Kalkül der RAF aufgegangen und hätten nicht drei der fünf im Springer-Hochhaus versteckten Bomben technisch versagt, hätte es ein bis dahin beispielloses Blutbad gegeben. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar sagt: "Es hätte nicht viel gefehlt und der Freitagnachmittag des 19. Mai 1972 wäre als Tag der blutigsten Anschläge der RAF in die bundesdeutsche Geschichte eingegangen."