Gequatscht wird immer und auf allen Kanälen. Die Flut der Talkshows beschädigt die parlamentarische Demokratie

Manchmal kommt die Bundesrepublik pubertär daher - so wie am vergangenen Montag. In der Nacht zuvor war eigentlich Ungeheuerliches passiert. In Frankreich pusteten die Bürger den eitlen Nicolas Sarkozy aus dem Amt, die Griechen wählten das Chaos, und Schleswig-Holstein erlebte ein Herzschlagfinale. Kurzum, genug Stoff, die Sommerlöcher eines ganzen Jahrzehnts zu stopfen. Und so hätte es also ein großer Tag für die Medien und ihre nachrichtenhungrige Kundschaft werden können. Wohlgemerkt, es hätte .

Es kam anders, weil eine weltbewegende Meldung alles Weitere zu einem "unter ,ferner liefen'" degradierte. Nicht etwa der Wechsel an der Waterkant, der Horror aus Hellas oder das Hurra für Hollande interessierten die Internetnutzer, sondern ein vermeintlicher Eklat in der Talkshow von Günther Jauch. Da hatte ein Störer sich in die Livesendung geschummelt und sich für die Schauspielschule Ernst Busch starkgemacht. Sensationell! Weltbewegend! An diesem Montag interessierte die Bundesbürger online vor allem eins: Bei "Bild.de" gewann die Posse im Plauderkränzchen knapp vor der Hammernachricht "Sido liebt die Hammerbraut'". Bei "Spiegel Online" landete "Wahl-Talk bei Jauch. Dampfplauderer mit Pirat" ganz vorne, bei "Focus.de" platzierte sich Jauchs Störenfried gleich zweifach in den Charts, und bei "welt.de" war nur der "Blutige Überfall - Mann fotografiert Geparden-Angriff auf Ehefrau" den Lesern noch wichtiger als "Günther Jauch - Die arrogante Piratenattitüde des 1er-Abiturienten".

Gerade das Internet gilt allgemein als besonders demokratisches Medium, weil jeder Nutzer per Klick über die Relevanz einer Nachricht entscheidet. Schwarmintelligenz, schwärmen die Netzgläubigen. Millionen Schmeißfliegen können nicht irren, argwöhnen die Kritiker.

Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Aber wundern darf man sich ja noch. Wer bislang dachte, Talkshows seien nur für Fernsehmacher wichtig, weil man mit wenig Aufwand hohe Quoten erzielt, irrt. Im Internet gibt es offenbar wenig Wichtigeres als die lautstarke Einzelmeinung eines Berliners zur Schauspielschule Ernst Busch und die (zugegeben professionelle) Reaktion des Talkmasters Jauch darauf.

Ist das die wichtigste Botschaft des Wahlsonntags und seiner Nachlese? Warum berichten alle Nachrichtenseiten im Netz von den permanenten Plauderrunden, als werde dort Politik gemacht? Standen Talkshows bislang für die Banalisierung des Politischen, sind die Dauerwerbesendungen zu Talkshows auf Nachrichtenseiten im Netz die Banalisierung des Banalen. Es fehlt nur noch, dass Liveticker nacherzählen, wie sich Guido Westerwelle mit Hans-Olaf Henkel streitet oder Arnulf Baring an Sahra Wagenknecht vorbeiredet.

Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) rechnet gern vor, dass im Jahr rund 28 Stunden lang Bundestagsdebatten übertragen würden. Das schaffen die Dampfplauderer locker in einer Woche; insgesamt bringen es allein die Talkshows des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Jahr auf 1000 Stunden. Und die mediale Resteverwertung auf den Nachrichtenseiten vervielfältigt die Wirkung. Da verwundert wenig, dass einige Parlamentarier ihre Aufgabe im Bundestag eher als Nebenjob verstehen und freiwillig in Talkshows drängen. Sie erweisen der Politik einen Bärendienst. Politik verkommt zur Parole, argumentativer Streit zum komödiantischen Radau, Oberflächlichkeit ersetzt Tiefgang, Häppchen vertreiben Hintergründe. Statt der Themen dominieren nur noch die Köpfe.

Es ist kein Zufall, dass die Schuldenkrise, Energiewende oder Abschied von der Wehrpflicht für viele nur noch die thematische Tapete bilden, vor der sich Politiker allabendlich zusammenfinden. Die Quasselrunden setzen vermeintlich Themen, in Wirklichkeit präsentieren sie nur Personen. Schon am Tag nach Jauch, Illner, Beckmann, Plasberg, Maischberger, Will und Co. mag man sich noch an die Diskutanten erinnern, nicht aber an die Argumente. So tragen Talkshows dazu bei, die Maßstäbe zu verschieben. Wo Köpfe herrschen, treten die Inhalte zurück. Mit welcher Verve hat die Republik die Bundeswehrreform diskutiert - und mit welcher Guttenbergs sonderbare Doktorarbeit?

Lammert sagte kürzlich dem Abendblatt, er nehme zur Kenntnis, dass sich die Talkshows zu Tode laufen. Nach dem "Jauch-Eklat" wachsen die Zweifel an dieser optimistischen Prognose. Gut möglich, dass sie sich erst totlaufen, wenn sie die parlamentarische Demokratie zu Tode geritten haben.