Eine Glosse von Alexander Josefowicz

"Natürlich hab ich das gelesen!" Im Brustton der Überzeugung vorgetragen, ist das wohl eine der beliebtesten Lügen unter kulturaffinen Menschen. Oder solchen, die gern so wahrgenommen werden wollen: Die Umfrage eines britischen Buchklubs ergab, dass 71 Prozent der Einwohner des Königreichs behaupten, Klassiker gelesen zu haben, die in Wirklichkeit nur als Zierde des Bücherregals vor sich hinstauben. Am meisten geflunkert wird jenseits des Ärmelkanals, wenn es um "Stolz und Vorurteil", "Der Herr der Ringe", "Jane Eyre", "Tess von den d'Urbervilles" und "Der kleine Hobbit" geht.

In Deutschland dürfte die Gesamtzahl der Leselügner vermutlich nicht viel niedriger liegen. Wer gibt sich im Gespräch schon gern die Blöße, an den "Buddenbrooks", an "Die Blechtrommel" oder "Effi Briest" gescheitert zu sein oder die Lektüre von vornherein verweigert zu haben?

Mindestens genauso spannend wäre nun eine Umfrage nach den Büchern, von denen alle behaupten, sie nicht gelesen zu haben. Mit Sicherheit finden sich in so manchem Bildungsbürgerhaushalt völlig zerlesene Exemplare der "Twilight"-Vampirschmonzetten von Dan Browns gesammelten Verschwörungsreißern und meterweise "Wanderhure"-Mittelalterkitsch. Gut versteckt in den zweiten Reihen des ansonsten wohlsortierten Regals, natürlich. Soll ja schließlich keiner wissen, dass man sich auch gern einmal literarischen Sünden hingibt.