Wachstum darf nicht zum Selbstzweck werden. Freude am Leben entsteht erst durch Beziehungen, die Erfüllung bringen

Gesundheitsexperten schlagen Alarm: Die Zahl der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen sind in den vergangenen zehn Jahren dramatisch gestiegen - von 33,6 Millionen auf 53,5 Millionen. Als Grund wurden steigende Anforderungen an Eigenverantwortung und Flexibilität genannt - die Leute halten den Stress nicht mehr aus. Aufregung löst dies erstaunlicherweise nicht aus. Ängste, Depressionen und Burnout werden offenbar als Kollateralschaden des Wohlstands akzeptiert.

Dennoch stellt sich die Frage, wieso eines der wohlhabendsten Länder der Welt seine Wirtschaft nicht so zu strukturieren vermag, dass seine Bürger mit wachsendem Wohlstand auch mehr Zeitsouveränität und Zufriedenheit erleben. Das Gegenteil ist der Fall, nicht nur bei uns: Statistiker beobachten, dass Zufriedenheit und Glücksempfinden in den wohlhabenden Ländern mit dem steigenden Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht mehr mithalten - die Kurven entwickeln sich auseinander. BIP allein macht eben nicht glücklich.

Doch um aus der Schuldenkrise zu kommen, brauchen wir gerade Wachstum, schließlich sind wir die Lokomotive Europas - so etwa lautet das Mantra, das uns serviert, jedoch selten hinterfragt wird. Ist aber Wachstum nicht längst zum Selbstzweck geworden mit wenig Glückssteigerung für Einzelne?

Ökonomen, deren Denken noch durch moralphilosophische Erwägungen geprägt war, hatten die Vision, der materielle Fortschritt werde irgendwann die Bedürfnisse sättigen und zum Paradies auf Erden führen - doch unsere Bedürfnisse wuchern offenbar ins Unendliche, je mehr Wohlstand wir haben. Die moderne Massenproduktion und damit einhergehend eine Werbewirtschaft, die zum permanenten Konsum auffordert ("Du darfst!"), hat die Pandora-Büchse des unstillbaren, unersättlichen Begehrens nach "immer mehr" weit geöffnet, indem sie ständig neue künstliche Bedürfnisse schafft.

Unzufrieden zu sein und mehr zu wollen ist zwar etwas typisch Menschliches - nicht von ungefähr gilt Habgier bereits im Alten Testament als eine der sieben Todsünden. Wegen ihrer zerstörerischen Kraft für den Einzelnen wie für das Gemeinwesen wird sie jedoch in den meisten Kulturen moralisch verurteilt. Nur im Kapitalismus wird das Ausleben von Gier als Motor des Wirtschaftslebens positiv gesehen.

Der "Homo oeconomicus", der selbstsüchtig auf seinen Vorteil bedachte Mensch, war jahrzehntelang Leitbild der Ökonomen, die als Politikberater großen Einfluss auf Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik nahmen. Ihr einseitiges Menschenbild hat unsere Gesellschaft geprägt: Vor diesem Hintergrund ist Egoismus - in seiner Übersteigerung Gier - als vermeintliches Zeichen geistiger Gesundheit, als Voraussetzung für Erfolg aufgewertet worden.

Die Geister, die ich rief ... Während frühere Generationen unter Mangel litten, macht uns der Überfluss zu schaffen. Dabei fehlt ein Gefühl für das richtige Maß in all diesen Dingen, denn alles Gute, was man übertreibt, wird schlecht, das hat schon Aristoteles erkannt. Was hindert uns daran, "genug" zu sagen und zufrieden und dankbar das Erreichte zu genießen?

Wohlstand ist nicht die einzige Quelle von Glück. Zu viel Selbstsucht und Gier haben sich unterm Strich nicht als glückstauglich erwiesen, sondern soziale und ökologische Werte zerstört. Freude am Leben entsteht in erster Linie durch erfüllende Beziehungen, durch das Gefühl von Zugehörigkeit, Vertrauen, Nähe, Geborgenheit - hier liegen vermutlich die größten Wachstumspotenziale der Zukunft!