Vor 100 Jahren machte der dänische Monarch Friedrich VIII. auf einer Reise inkognito an der Alster Station. Nachts brach er am Gänsemarkt zusammen und starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Bis heute halten sich Gerüchte, er sei zuvor im Bordell gewesen - trotz seines schwachen Herzens

Ein Monarch besucht in der Metropole eines fremden Landes ein Bordell und stirbt kurz darauf unerkannt auf der Straße. Die offiziellen Stellen versuchen, den Skandal zu vertuschen, aber natürlich kommt die Sache doch ans Licht. Bis heute erzählt man sich in Hamburg die Geschichte des dänischen Königs Friedrich VIII., der vor genau 100 Jahren in der Hansestadt unter nie ganz geklärten Umständen gestorben ist. Für viele Hamburger gilt die Bordellgeschichte als zweifelsfrei erwiesen. In Dänemark, wo der eher liberal eingestellte Monarch bis heute weniger für seine sechs Jahre auf dem Thron bekannt ist als für seine lange Zeit als "ewiger Kronprinz", hält man sie bestenfalls für ein unbewiesenes Gerücht. Aber was hat sich heute vor 100 Jahren tatsächlich in Hamburg abgespielt?

Halten wir uns zunächst an die Fakten, die sich auf der Grundlage der im Staatsarchiv verwahrten Polizeiakten sowie weiterer deutscher und dänischer Quellen ungefähr so rekonstruieren lassen: Tatsache ist, dass der König auf der Rückfahrt von einem Kuraufenthalt in Nizza am 13. Mai 1912 Station in Hamburg machte. Er war nicht allein, sondern in Begleitung seiner Gattin Louise, der drei jüngsten Kinder, seines Hofmarschalls und - natürlich - des Leibarztes. Denn um die Gesundheit des herzkranken damals 68-Jährigen war es nicht gut bestellt. Immerhin hatte ihm die Kur gutgetan, er schien auf dem Wege der Besserung.

Der Hofstaat hatte sich im Hamburger Hof eingemietet, damals eine der ersten Adressen der Hansestadt, ein Luxushotel an der Ecke Jungfernstieg/Große Bleichen mit Blick auf die Alster. Dort bezog man im repräsentativen zweiten Obergeschoss 20 Zimmer. Um offizielle Empfänge und Formalitäten zu umgehen, reiste die dänische Königsfamilie inkognito. Im Hotel war Friedrich VIII. nur "Graf von Kronborg", aber natürlich wusste Hoteldirektor Carl Wache, wen er vor sich hatte. Man kannte sich: Friedrich war mehrfach hier Gast gewesen, er mochte Hamburg, besuchte hier gern volkstümliche Etablissements wie das Hansa-Theater.

Wohl gegen 19 Uhr versammelte sich die Familie zum Dinner; anschließend zog sich die Königin, die von der langen Zugfahrt ermüdet war, in ihre Zimmer zurück. Die Herren gingen hinunter in die Lobby, wo der Leibarzt dem König in Anbetracht des Kurerfolgs sogar eine "leichte Zigarre" genehmigte. Gegen 22 Uhr verließ der hohe Gast noch einmal das Hotel, um den lauen Frühlingsabend bei einem Spaziergang zu genießen. Das war nicht ungewöhnlich, der Monarch liebte es, sich unerkannt unters Volk zu mischen. Und es war bekannt, dass er bescheiden und freundlich auftrat.

Eigentlich hätte man vermutet, dass er zur Alster gehen würde, vielleicht auf ein Bier in den nahen Alsterpavillon, von dessen Terrasse aus sich ein wundervoller Panoramablick bot. Doch "Graf Kronborg" wendete sich nach links und erreichte nach höchstens fünf Minuten den nur etwa 160 Meter entfernten Gänsemarkt. Bleiben wir bei den Fakten: Etwa um 22.20 Uhr brach er auf den Stufen der Schlachterei Burk (Jungfernstieg 48) zusammen. Der Gynäkologe Dr. Seeligmann, der gerade das Stadt-Theater (die heutige Staatsoper) verlassen hatte, eilte ihm zur Hilfe. Friedrich war ansprechbar, er wohne im Hotel Hamburger Hof, sagte er den Helfern, und wolle am liebsten allein dorthin zurückkehren. Aber gleich darauf ging es ihm noch schlechter, gegen 22.25 Uhr brach er erneut zusammen und wurde von Dr. Seeligmann sowie einigen Passanten vor dem Eingang der Buchhandlung des Rauhen Hauses (der späteren Buchhandlung Anneliese Tuchel) hingesetzt.

Ein Polizist hielt ein Auto an, das "Kronborg" innerhalb weniger Minuten ins Hafenkrankenhaus brachte. Als der Wagen dort gegen 22.40 Uhr eintraf, war der König bereits tot. Ein Arzt stellte einen Totenschein aus, ohne zu ahnen, um was für eine prominente Leiche es sich hier handelte.

Was nun geschah, hat der Hamburger Historiker Mathias Hattendorff erst kürzlich anhand von Dokumenten aus dem Besitz der Nachkommen des Hoteldirektors und weiterer Quellen rekonstruieren können. "Etwa gegen zwei Uhr stellte ein Lakai fest, dass der König nicht in seinem Bett lag. Er weckte den Hoteldirektor, der sofort diskret einige Bars und Restaurants in der Umgebung absuchte. Er wusste, dass der König bei früheren Besuchen dort mit seinem zwei Jahre jüngeren Lieblingsbruder, König Georg I. von Griechenland, gern eingekehrt war. Nachdem er erfolglos ins Hotel zurückgekehrt war,beratschlagte er sich mit dem Hofmarschall und begab sich schließlich zur Polizeiwache im Stadthaus, wo er gegen drei Uhr eintraf", sagt Hattendorff, der zurzeit eine Publikation über den Fall vorbereitet.

Noch während Hoteldirektor Carl Wache mit den Polizeibeamten über die Vermisstenmeldung sprach, traf dort die Mitteilung ein, im Hafenkrankenhaus sei die Leiche eines "unbekannten älteren und gut bekleideten Herrn" eingeliefert worden. Sofort machte sich der Hoteldirektor in Begleitung eines Kommissars auf den Weg zum Hafenkrankenhaus, das sie etwa um 3.30 Uhr erreichten. Dort mussten sie erst einmal den diensthabenden Arzt und den hinzugerufenen Krankenhausinspektor von der Dringlichkeit ihres Anliegens überzeugen. Dann erst durfte Wache die Leiche sehen, die er sofort als "Graf Kronborg" identifizieren konnte. Aber erst nachdem Wache das Inkognito des Toten preisgegeben hatte, wurde die Leiche, die eigentlich am nächsten Tag obduziert werden sollte, herausgegeben. Zwei Wärter schleppten den toten König zur Straße hinunter und setzten ihn dort in das wartende Automobil, mit dem ihn Wache wieder ins Hotel brachte. Über einen Nebeneingang brachte man ihn in sein Zimmer und legte ihn in das repräsentative Bett, in dem sich "Graf Kronborg" posthum wieder in den dänischen König Friedrich VIII. verwandelte.

Damit wurde die persönliche Tragödie zur Staatsaffäre: Schon am frühen Morgen informierte man den dänischen Kronprinzen in Kopenhagen, Bürgermeister Johann Heinrich Burchard, die dänische Gesandtschaft und Kaiser Wilhelm II. Die Telegrafen im Hamburger Hof hatten alle Hände voll zu tun. Sie setzten mehr als 200 Depeschen in alle Welt ab. HoteldirektorWache selbst kabelte eine Mitteilung über den Tod des Königs an die liberale dänische Tageszeitung "Politiken", die sofort ihren Chefkorrespondenten nach Hamburg schickte.

Bald wimmelte es von Journalisten, die versuchten, von den Hotelbediensteten Informationen zu bekommen. Vor dem Hamburger Hof wurden Schilderhäuschen aufgestellt, Soldaten hielten Ehrenwache, bei strömendem Regen marschierte eine Ehrenkompanie auf. Mit Genehmigung des Hofmarschalls machte ein Fotograf diskret mehrere Aufnahmen des toten Monarchen, dessen "Sterbebett" mit Blumen geschmückt war. Am 16. Mai, einem Donnerstag, herrschte in Hamburg so etwas wie Ausnahmezustand: Eine dichte Menschenmenge verfolgte, wie der Wagen mit dem toten König mit militärischen Ehren und unter Trommelwirbel vom Jungfernstieg bis zum Hauptbahnhof gefahren wurde. Auf Gleis 3, wo heute die S-Bahn nach Poppenbüttel abfährt, stand der Hofzug bereit, der Friedrich VIII. nach Travemünde brachte, wo er an Bord des königlich-dänischen Schaufelraddampfers "Dannebrog" nach Kopenhagen überführt wurde. Seine letzte Ruhestätte fand er in der Kathedrale von Roskilde. DerTod des Königs war damals ein enormes Medienereignis. Zeitungen aus aller Welt hatten über die Ereignisse in Hamburg und die prächtige Trauerfeier und Beisetzung in Dänemark berichtet.

Es gibt sogar Filmaufnahmen davon. Als offizieller Hamburger Vertreter hatte Senator Friedrich Sthamer an der Beisetzung teilgenommen. Danach, erinnerte er sich, habe er ein Gespräch mit dem "sehr jovialen" Georg I. von Griechenland geführt, "der sich am längsten mit mir unterhielt und von Hamburg sagte, sie liebten es alle,wären von Kindheit auf mit ihm vertraut und besuchten es regelmäßigund häufig".

Während Dänemark trauerte, brodelte es in der Hamburger Gerüchteküche. Das hatte mit der Route zu tun, die der Monarch in seiner letzten Stunde zu Fuß einschlug. Denn in der Schwiegerstraße, in deren unmittelbarer Nähe Friedrich zusammengebrochen war, befand sich damals das luxuriöseste Bordell der Hansestadt.

Zwei Prostituierte, wurde kolportiert, hätten ihn aus dem Bordell geschleift und mit den Worten "watten Schiet" auf der Straße liegen lassen. Belege dafür? Gibt es nicht. Es gibt freilich Zeugen, die - nachzulesen in den Polizeiakten - damals eine andere Variante zu Protokoll gaben: Der Wirt und ein Kellner des unmittelbar benachbarten Café Opera gaben an, "Graf von Kronborg" sei bei ihnen zu Gast gewesen, unmittelbar bevor er auf der Straße zusammenbrach. Das dürfte zwischen 22.05 und 22.20 Uhr gewesen sein. Der Wirt brachte später sogar ein Messingschild an dem Stuhl an, auf dem der König angeblich gesessen hatte. Auf Drängen der dänischen Gesandtschaft wurde es entfernt. Der Kellner erinnerte sich, dass Friedrich einen Whisky Soda getrunken und eine Postkarte geschrieben habe.

Bordell oder Café? In Hamburg wurde jahrzehntelang die Bordell-Variante als gesicherte Tatsache überliefert. Mathias Hattendorff, sicher einer der besten Kenner der hamburgisch-dänischen Geschichte, hält diese Geschichte jedoch schon aufgrund der Chronologie für eigentlich unmöglich: "Es gibt einen einzigen dänischen Journalisten, der in seinem ersten Bericht schrieb, der König hätte seinen Spaziergang bereits 21 Uhr begonnen. Dann wäre zumindest genügend Zeit für einen Bordellbesuch geblieben. Doch das widerspricht allen übrigen Quellen, und der Korrespondent von 'Politiken' hat diese Angabe später auch korrigiert, wahrscheinlich war es schlicht ein Hörfehler", meint Hattendorff.

Ist das schlüpfrige Gerücht also völlig aus der Luft gegriffen? "Friedrich VIII. war sicher kein Kind von Traurigkeit, das war auch in der dänischen Öffentlichkeit bekannt, aber an diesem Abend hat er wohl kaum ein Freudenhaus besucht", sagt der Historiker und rechnet vor: "Er kann frühestens um 22.05 Uhr am Gänsemarkt eingetroffen sein. Um im Café Opera ein Glas zu trinken und eine Postkarte zu schreiben, dürfte er mindestens zehn Minuten gebraucht haben. Dann ist er offenbar wieder auf die Straße gegangen, wo er gegen 22.20 Uhr zum ersten Mal zusammenbrach.

Der zweite Kollaps ereignete sich bereits wenige Augenblicke später. Und 22.40 Uhr war er bereits tot im Hafenkrankenhaus eingeliefert. Da blieb schlicht keine Zeit fürs Bordell. Und von einer systematischen Vertuschung ist aufgrund der vielen Augenzeugen nicht auszugehen."