Ulrike Murmann lernte in der Pampa, dass sie zur Pastorin taugt. Dabei war es ursprünglich keineswegs ihr Ziel, sonntags zu predigen.

Hamburg. St. Katharinen, die Kirche von Hauptpastorin Ulrike Murmann, ist eine Baustelle. Eine Großbaustelle. Kaum ein Stein dort, der in den vergangenen Jahren nicht angefasst wurde. Ein Keller wird neu gebaut, Dach und Turm saniert, ein wiederentdecktes Nordportal geöffnet, nachträglich eingebaute Holztrennwände entfernt, eine Fußbodenheizung verlegt, eine Chorempore und Barock-Orgel neu eingebaut, nach derselben Disposition (und mit 520 alten Pfeifen) wie die, auf der Johann Sebastian Bach mehrfach in Hamburg spielte.

Noch steht das Gerüst. Die Kirche ist geschlossen, die Kellerdecke noch nicht, noch steht - staubsicher verpackt - von der Orgel erst das Rückpositiv. Aber wenn Ulrike Murmann vom neuen Glanz der alten Kirche erzählt, strahlt in der Vorstellung alles schon in frischem Weiß, ist der ca. 1450 vollendete Kirchenraum in seiner ganzen Schönheit zu erahnen. Nach derzeitiger Planung soll er am 1. Advent seine Tore wieder öffnen.

Ulrike Murmann, die neben ihren Aufgaben als Hauptpastorin und Pröpstin für Mitte/Bergedorf in den vergangenen Jahren auch die Baubegleitung gestemmt hat und die Geldbeschaffung (mehr als 19 Millionen Euro sind schon akquiriert), ist bester Dinge: "Was für eine wahnsinnige Chance, unseren kirchlichen Auftrag in dieser säkularen Stadt präsent zu halten - eine solche Kirche zu haben, die Christen fasziniert wie Nichtchristen, Kulturinteressierte und Musikliebhaber, Fromme wie Skeptische. Ein Riesengeschenk."

Vor acht Jahren wurde sie, damals Pressereferentin von Bischöfin Maria Jepsen, als erste Frau nach 133 männlichen Amtsträgern zur Hauptpastorin gewählt. "Die Zeit war reif. Damals gab es ja schon eine Bischöfin, eine Präsidentin im Kirchenamt, eine Diakoniechefin. Und viele hatten gemerkt: So schlimm ist das ja gar nicht, die können ja auch was."

Besonders gefreut hat sie sich, "dass ich ausgerechnet an dieser Kirche gewählt wurde; St. Katharinen ist ja die einzige Hauptkirche mit einem weiblichen Namen". Die heilige Katharina soll im 4. Jahrhundert gelebt haben, eine zypriotische Prinzessin, die Christin wurde und deshalb vom römischen Kaiser Maxentius angefeindet. Sie war klug und gebildet.

Den Kaiser, heißt es, habe sie aufgefordert, seine 50 besten Philosophen zu ihr zu schicken für eine Religionsdebatte. Die beredte Katharina überzeugte alle, sie ließen sich taufen - so wie die Garde des Kaisers und dessen Ehefrau. Dem Kaiser gefiel das nicht, Kathrina starb als Märtyrerin. Im 13. Jahrhundert, als St. Katharinen errichtet wurde, war sie eine Lieblingsheilige des Volks, mit einem gewaltigen Aufgabengebiet. "Klug, mutig, schön", dieses Motto hat sich die Gemeinde bald nach Murmanns Amtsantritt zugelegt, alle drei Attribute mit Blick auf die Namensgeberin. "Klug war sie, mutig auch, und die Schönheit stand dem nicht im Wege."

Für sie ist es Ansporn für die Arbeit: "Den Mut zum Beispiel, gegen die Pläne der Stadt und von Hochtief zur Bebauung zwischen Kirche und Willy-Brandt-Straße aufzustehen, die unsere Kirche fast unsichtbar gemacht hätte. Die Klugheit, die sich in vielen unserer Vortragsreihen ausdrückt. Und die Schönheit, die der historische Raum mitbringt."

Erinnert sie sich noch daran, wie es war, als sie zum ersten Mal den Hamburger Ornat der Pastoren trug und den Hamburger Pastorenkragen umlegte? "Das muss am 2. Advent 1990 gewesen sein, bei meiner Ordination in St. Nikolai. Ein sehr wichtiger Tag."

Da hat sie gespürt: "Der Kragen ist ja total steif, vor allem, wenn man ihn das erste Mal umlegt. Und schnürt einem ein bisschen den Hals zu, was man an so einem Tag ja ohnehin ein bisschen spürt. Es ist ganz schön, dass er sich im Lauf der Jahre weitet und locker wird, man selber wird auch lockerer."

Dabei war es keineswegs ihr Ziel, mit dem "Rad" um den Hals sonntags zu predigen. Ulrike Murmann, geboren 1961, stammt aus Kiel, aus einer Familie, der öffentliches Wirken nicht fern liegt. Ihr Vater Klaus Murmann war Unternehmer und von 1986 bis 1996 Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Bruder Sven ist Unternehmer und Verleger, Onkel Dieter von 1989 bis 2000 Vorsitzender des Wirtschaftsrats der CDU, Cousin Philipp CDU-Bundestagsabgeordneter.

Rolle und Kurs des Vaters hat sie früher ambivalent erlebt: "Man wird viel auf seine Familie angesprochen und muss sich dazu verhalten, nicht immer stimmt man überein mit dem, was das Elternhaus darstellt - gerade, wenn man in der Pubertät steckt und sich selbst sucht, was ja nicht ohne Abgrenzung gelingt."

Aus der Familie stammt aber auch das Gefühl von gutem Zusammenhalt unter den fünf Geschwistern und den Eltern. "Und ein hohes Verantwortungsbewusstsein und den Ansporn, etwas zu bewirken. Meine Eltern haben mir beigebracht: Gib der Gesellschaft etwas von dem zurück, was du mitbekommen hast. Dieses Ethos prägt mich schon sehr."

Dass sie Theologie in München studierte, kam durch eine sehr kluge Religionslehrerin, die die richtigen Fragen gestellt hat. "Für mich war das Studium der Theologie ein Ort, an dem kluge Fragen gestellt wurden: Wer bin ich? Was ist das Ziel von Sein überhaupt? Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? Solche existenziellen Fragen." Sie lacht. "Im Unterschied zu meinem Vater, der sich beruflich mehr ums Materielle gekümmert hat, habe ich mich dem Geistigen zugewandt bzw. zuwenden können."

Ende der 80er-Jahre ging sie für ein halbes Jahr nach Argentinien, in den nordöstlichen Zipfel des Landes, nach Misiones. "Da war ich in Landgemeinden unterwegs, in einer lutherischen Kirche, von deutschen Einwanderern mitgebracht. Argentinien war eine Bauchentscheidung, eine Selbstprüfung."

Eines ihrer Erlebnisse: eine Beerdigung mitten im Urwald. "Der Kollege, den ich begleiten sollte, war krank, ich musste einspringen und die Trauerfeier halten, auf Spanisch. Und kam in die Holzhütte, sah die verstorbene alte Frau im offenen Sarg. Dazu Klageweibergesang, unheimlich emotional. Und nun sollte ich die richtigen Worte finden, die richtige Haltung. Da ist mir eine Kraft zugewachsen wie ein Geschenk. Und ich wusste: Das Pastoren-Amt kannst du übernehmen."

Erst aber kam noch die Doktorarbeit - über Sünde als Entfremdung. Sieben Jahre hat sie daran gearbeitet, parallel dazu geheiratet, Kinder zur Welt gebracht, das Vikariat durchlaufen. Dann wurde sie Pastorin.

Als Hauptpastorin leitet sie heute St. Katharinen und ein Programm, mit dem diese Hauptkirche in die Stadt ausstrahlt. Mit Extraverantwortung für die Jahrhundertsanierung und den Ausbau der Gemeinde in die neu entstehende HafenCity hinein, die Katharinen aus einer Randlage wieder in die Mitte bringt. Versucht Menschen, die der Kirche fernstehen, wieder dafür zu interessieren, an die "Sehnsucht nach Glauben" anzuknüpfen, die sie in der Stadt spürt. Als Pröpstin betreut sie 23 Gemeinden zwischen St. Pauli und Geesthacht, organisiert Kirche zwischen Wohlstand und Armut. Ist Stiftungsratsvorsitzende der Bürgerstiftung Hamburg, arbeitet im Hochschulrat der Musikhochschule mit, schreibt Kolumnen, hat Familie mit Mann - NDR-Hörfunkdirektor Joachim Knuth - und drei Kindern. Wie geht das, wo nimmt sie die Power her?

"Das fragt man nur Frauen, stimmt's?" Nein, das fragt man sich, weil es ein Pensum ist, aus dem andere drei Jobs machen. "Also gut: Ich bin sehr strukturiert, ich arbeite sehr teamorientiert, kann anderen verantwortliche Bereiche überlassen. Ich stecke Ziele ab, bespreche den Weg dahin, und dann lass ich sie machen. Ich kann ertragen, wenn's mal nicht so gut läuft. Und ich freu mich, wenn andere sich entfalten."

Sicher gibt es auch mal Konflikte, "das nimmt mich mit, das nehm ich auch mal mit nach Hause, bin manchmal erschöpft." Oft reicht ein bisschen Joggen, um das hinter sich zu lassen, oder ein Choral von Bach, der Gewissheit gibt: "Alles wird gut."

Ulrike Murmann achtet darauf, dass Zeit für die Familie und sie selbst da ist. Blockt dafür Zeiten im Kalender, wo keine Termine hinkommen. "Das wird auch akzeptiert, man muss es nur deutlich sagen. Und einmal im Jahr gehe ich für eine Woche in ein Kloster, um geistlich aufzutanken."

Für ihr Empfinden kommt manchmal die Seelsorge zu kurz bei so viel Verwaltungsarbeit. "Menschen zu begleiten, die mit Fragen, Sorgen, Ängsten und oft in Krisen zu uns kommen und um Hilfe bitten. Das bedeutet nicht: Ich sag dir, was du tun musst. Es ist oft nur: Ich höre dir zu, begleite dich bei deinen Fragen." Pastoren, sagt sie, seien ja oft in Übergangssituationen des Lebens gefragt, wenn sich etwas grundlegend ändert, "Konfirmation - der Sprung ins Erwachsenenleben, Ehe, Taufe. Und der Tod, durch den wir ins ewige Leben gehen. Hoffentlich."

Wer mit Ulrike Murmann spricht, ahnt, wie es den 50 Philosophen des Kaisers im Dialog mit der heiligen Katharina gegangen sein muss. Auch sie ruht mit großer Fröhlichkeit und schnellem Intellekt auf dem Fundament einer Glaubensgewissheit - unabdingbar für die Arbeit einer schrumpfenden Kirche in einer wachsenden Stadt. Und sagt: "Das hab ich einfach, ich kann nichts dafür."

Hauptpastorin Murmann reicht den roten Faden in der kommenden Woche weiter an Esin Rager: "Weil sie eine Unternehmerin mit Sitz in der HafenCity ist, die sich über ihr eigenes Business hinaus für multikulturelle Vielfalt und Integration einsetzt. Außerdem ist sie originell: Ihre Teesorten heißen zum Beispiel Team Spirit oder Maybe Baby und lassen sich auch als Cocktail genießen."