Neustadt. Es war wie ein emotionales Gewitter. Die Aufregung, das Zittern und Beben, das den Körper der betagten Dame erschütterte, als sie zum ersten Mal in ihrem langen Leben unfreiwilligen Kontakt mit der Polizei hatte. In diesem Moment ahnte Waltraut K. noch nicht, was sie wohl falsch gemacht haben könnte. Sie war doch nur mit ihrem Auto unterwegs! Dass sie dabei etliche Minuten lang auf der Gegenspur gefahren war und mehrere Beinah-Unfälle verursacht hatte, war der 77-Jährigen überhaupt nicht bewusst geworden. Sie hatte es schlicht nicht wahrgenommen - weil sie ihre Brille nicht trug.

Jetzt, im Prozess vor dem Amtsgericht, hat Waltraut K. ihre Sehhilfe auf der Nase und alles glasklar vor Augen. Nicht nur ihre Umgebung im Gerichtssaal, wo sie sich wegen Gefährdung des Straßenverkehrs verantworten muss. Sondern auch die Konsequenzen, die der Vorfall vom Februar dieses Jahres für ihr Leben mit sich ziehen könnte. Ein drohender Verlust ihres Führerscheins und damit auch eine Einschränkung ihrer Mobilität erscheinen der Rentnerin als schwere Belastung. Mit zögerlichen Schritten ist die schlanke Dame mit dem graublonden Haar in den Verhandlungssaal gekommen. Blass und verzagt sieht sie aus, nervös und mitgenommen. "Ich fahre seit 1972 Auto", erzählt sie mit bebender Stimme. "Und ich hatte noch nie einen Unfall." Ihren Wagen zu unterhalten sei zwar kostspielig, insbesondere, weil sie nur eine kleine Rente beziehe. Trotzdem wolle sie nicht darauf verzichten, sagt sie mit flehendem Blick. Sie benötige doch das Auto, um zum Friedhof und in den Urlaub zu fahren.

An jenem schicksalhaften Tag war sie unter anderem auf der Stresemannstraße unterwegs, als ihre Fahrweise andere Verkehrsteilnehmer alarmierte. "Wie durch ein Wunder" seien Zusammenstöße vermieden worden, heißt es in der Anklageschrift in dem Gerichtsverfahren. Und auch für einen Zeugen erscheint es gleichsam als himmlische Fügung, dass kein schwerwiegendes Unglück geschehen ist. "Wir dachten immer wieder: O Gott, das ist ja noch mal gut gegangen", erzählt ein Mann, der als Beifahrer im Auto seines Sohnes unterwegs war und über Minuten ihre riskante Tour verfolgte. Der Wagen der Rentnerin habe zunächst einen Kantstein touchiert, dann sei sie in der Fahrbahnmitte gefahren und schließlich auf die Gegenfahrbahn geraten, erinnert sich der Zeuge.

"Ich als Arzt dachte, da ist jemand krank." Alkoholgenuss habe er gleich für unwahrscheinlich gehalten, weil die betagte Dame keine Schlangenlinien fuhr. "Im Gegenverkehr wichen ihr andere Autos aus, das waren etwa fünf bis zehn Wagen, einige mussten sogar in Parklücken flüchten." Es habe mehrere Beinah-Unfälle gegeben. Er habe die Polizei benachrichtigt, sein Sohn habe versucht, die Rentnerin durch Hupen und Winken aufzurütteln, um sie auf ihre Kamikaze-ähnliche Fahrweise hinzuweisen. "Aber sie winkte nur zurück." Ob Waltraut K. eine Brille getragen habe, habe er nicht erkennen können. "Die Scheiben ihres Wagens waren extrem beschlagen."

Auch die alarmierte Polizei war erschüttert wegen der schlechten Sehverhältnisse im Auto. Doch der 77-jährigen Autofahrerin selbst waren die beschlagenen Scheiben wegen ihrer fehlenden Brille womöglich noch nicht einmal aufgefallen. Die Sehhilfe habe die Rentnerin jedenfalls nicht getragen, als ihr Wagen schließlich von der Polizei gestoppt wurde, sagt eine Beamtin als Zeugin. "Sie lag in ihrer Handtasche auf dem Beifahrersitz." Als sie die Seniorin gefragt habe, warum sie die nicht trage, habe Waltraut K. mit Verwunderung reagiert. "Wieso, ich habe sie doch dabei!" Bei der Befragung habe sie aufgeregt gewirkt. "Sie zitterte die ganze Zeit. Und sie sagte immer wieder, dass sie ihren Führerschein wiederhaben wolle."

Doch ob das überhaupt je wieder der Fall sein wird, ist fraglich. Am Ende wird Waltraut K. schuldig gesprochen und verwarnt. Eine Geldstrafe von 240 Euro wird vorbehalten und somit zur Bewährung ausgesetzt.

Vor allem aber darf die 77-Jährige frühestens in neun Monaten wieder eine Fahrerlaubnis beantragen, entscheidet die Amtsrichterin. "Ich weiß, dass es schwerfällt, auf den Führerschein zu verzichten, insbesondere, wenn man im Alter weniger mobil ist", erklärt sie. "Aber wir müssen auch die Sicherheit im Verkehr berücksichtigen." Es sei "reines Glück", dass nichts Schlimmes passiert sei. Die Autofahrt von Waltraut K. hätte "schwere Folgen haben können", unter anderem hätte es auch geschehen können, dass "Sie hier nicht mehr sitzen können".

Die 77-Jährige müsse sich auch vor Augen halten, wie es wäre, wenn beispielsweise einer ihrer Angehörigen jemandem mit dieser Fahrweise begegne, in einen Unfall verwickelt werde und dann schwerste oder sogar tödliche Verletzungen davontragen könne, redet die Richterin der wie betäubt wirkenden Seniorin ins Gewissen.

"Und Sie haben gar nicht mit-gekriegt, dass etwas Gefährliches passierte, sondern fröhlich zurück-gewinkt, als Sie jemand darauf aufmerksam machen wollte." Es sei nicht zu verantworten, dass Waltraut K. weiterhin Auto fahre, betont die Richterin. Später müsse sie dann einen Test machen, und ob sie dann wieder fahrtüchtig sei, sei zweifelhaft. "Aber vielleicht stellen Sie auch in nächster Zeit fest, dass es gar nicht so schlimm ist ohne Führerschein", gibt sie der Rentnerin noch mit auf den Weg. "Ohne Auto können Sie viel Geld sparen und dann auch mal den Zug nehmen. Und es gibt ja Seniorentickets."