Angestellte im Einzelhandel werden streiken. Auch Konflikte in anderen Branchen. Tarifeinigungen brachten bislang bis zu 4,1 Prozent.

Hamburg. Diesmal traf es die Provinzial-Versicherung: Rund 400 Mitarbeiter, auch aus Hamburg, demonstrierten gestern in Kiel für eine Gehaltssteigerung um sechs Prozent. Bereits am Freitag hatten sich 1500 Versicherungsangestellte in Hamburg an einem Warnstreik beteiligt. Heute stehen in Köln wieder Tarifgespräche für die Branche an. Festgefahren sind die Verhandlungen bei den Druckern - auch hier kommt es immer wieder zu Arbeitsniederlegungen.

Auch wenn viele Menschen in der Metropolregion Hamburg die streikbedingten Ausfälle im Schienennahverkehr noch unangenehm in Erinnerung haben, seien solche harten Auseinandersetzungen nicht typisch für die Tarifverhandlungen seit Anfang 2011 gewesen, sagte Reinhard Bispinck, Tarifexperte am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung: "Die bisherigen Verhandlungen sind relativ konfliktfrei verlaufen." So sei es nicht zu "massenhaften Warnstreiks" gekommen, meist habe man sich schon nach höchstens drei oder vier Gesprächsrunden einigen können.

"Auch auf der Arbeitgeberseite war klar, dass die Zeit der von Lohnzurückhaltung geprägten Verhandlungen vorbei ist", so Bispinck. Die seit Jahresanfang erreichten Abschlüsse zeigen das deutlich: In der Chemieindustrie gibt es 4,1 Prozent mehr Geld, für die 15 000 Beschäftigten in den Seehäfen wurde ein Plus von 3,9 Prozent ausgehandelt, in der westdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie steigen die Löhne um 3,6 Prozent, beim Energieversorger Vattenfall gibt es 3,4 Prozent mehr. Auch in einigen weiteren Branchen vereinbarte man Tarifanhebungen von mindestens drei Prozent.

Überraschend ist das nicht. Denn schon im vergangenen Jahr hatten Volkswirte einen sogenannten Verteilungsspielraum von drei bis dreieinhalb Prozent errechnet, wobei sie den Produktivitätsfortschritt und die erwartete Preissteigerung berücksichtigen. Somit bestünde keine Gefahr, dass der Aufschwung durch zu hohe Löhne abgewürgt wird: "Die bisherigen Abschlüsse sind im Hinblick auf die Konjunktur bestimmt nicht besorgniserregend", sagte Joachim Scheide, Leiter des Prognosezentrums am Institut für Weltwirtschaft (IfW) der Universität Kiel. Allerdings müssten die Tarifeinigungen die besonderen Gegebenheiten der einzelnen Wirtschaftszweige berücksichtigen. "Man kann keine Faustregel vorgeben, die für alle Branchen passt."

Verhandlungen im Einzelhandel

Dies ist auch der Grund, warum das Verhandlungsklima in einzelnen Bereichen wesentlich rauer ist. "Dazu gehört die Druckindustrie, weil dort die Arbeitgeber harte Einschnitte in den Manteltarifvertrag gefordert haben", so Bispinck. "Das ist ein ganz anderes Kaliber." Auch im Einzelhandel, der in den vergangenen Jahren nach Angaben des Tarifexperten zu den "Sorgenkindern" zählte, geht es offenbar zäh voran. Für Hamburg legten die Arbeitgeber gestern ein neues Angebot vor, dass ein Plus von 1,8 Prozent für 2011 und 1,2 Prozent für 2012 vorsieht. Die Gewerkschaft Ver.di lehnte den Vorschlag umgehend ab. "Die Verbraucher müssen in den nächsten Wochen weiter mit mindestens eintägigen Streiks rechnen", sagte Verhandlungsführer Arno Peukes. Am 22. Juni setzen sich die Kontrahenten wieder zusammen an einen Tisch.

Doch auch einige der bisherigen Abschlüsse fallen aus dem Rahmen. So steigen die Gehälter für die 39 000 Mitarbeiter der Papierindustrie lediglich um 2,5 Prozent, die Lufthansa einigte sich mit den 16 000 Flugbegleitern gar auf eine Nullrunde, im Gegenzug sollen sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Tatsächlich ist das Gesamtbild aus Arbeitnehmersicht nicht so positiv, wie es angesichts einzelner Tarifabschlüsse erscheint.

"Wir rechnen damit, dass die Einkommen in diesem Jahr im Schnitt um etwa zwei Prozent steigen", sagte IfW-Forscher Scheide. Einer der Gründe für die vergleichsweise niedrige Zahl: In einigen wichtigen Branchen steht in diesem Jahr gar keine Tarifrunde an, dort gelten noch Abschlüsse aus den Vorjahren, als der Aufschwung noch nicht so gefestigt war. "Außerdem muss man bedenken, dass eine Tarifsteigerung um drei Prozent, auf die man sich im Juni einigt, eben nur im zweiten Halbjahr wirksam wird", so Bispinck.

Noch schlechter fällt die Bilanz aus, wenn man die Inflationsrate gegenrechnet. Im Mai erhöhten sich die Verbraucherpreise um 2,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, im April waren die Preise um 2,4 Prozent geklettert. Bispinck macht den Arbeitnehmern denn auch keine großen Hoffnungen: "Netto bleibt von den Tarifanhebungen nicht viel übrig", sagt der Wissenschaftler. "Wieder einmal machen die Ölpreise einen Strich durch die Rechnung."