Bei der Entscheidung über den Atomausstieg müssen wir uns auf die Unsicherheiten der Meinung einlassen, ermutigt uns der Philosophie-Professor

Kürzlich hat die vom ehemaligen Bundesumweltminister Klaus Töpfer geleitete Ethikkommission über den Atomausstieg und die künftige Energieversorgung des Landes ihre Arbeit aufgenommen. Seither sieht sich das Gremium heftigen Attacken ausgesetzt. Auch Politiker mischen bei diesem Spektakel kräftig mit. Einige halten es schon für skandalös, dass die Probleme überhaupt noch einmal aufgerollt werden und dass nicht stattdessen - wie es die soeben unterzeichneten Koalitionsverträge in Mainz und Stuttgart festschreiben - ohne weiteren Aufschub "rasch gehandelt" wird.

"Rasches Handeln"? Die Inflation von Wörtern wie "unverzüglich", "jetzt" und "sofort" in der Sprache der Tagespolitik sollte uns hellhörig machen. Wilde Entschlossenheit und Ungeduld sind schlechte Ratgeberinnen - im Privatleben ebenso wie in der Politik.

Andere Stimmen setzen subtiler an und beanstanden nicht die Kommissionsarbeit als solche, sondern die personelle Zusammensetzung dieses Gremiums.

Zwar seien die Kirchen gut vertreten, heißt es, die eigentlichen Experten suche man jedoch vergebens. Das ist ein interessanter Einwand, der zunächst einmal seriös klingt, nach kurzem Bedenken aber in sich zusammenfällt. Denn wer sollte als "Experte" berufen sein, wenn es gilt, die Energieversorgung eines der großen Industrieländer dieser Welt zu sichern? Sind es die Wirtschaftswissenschaftler, die uns weismachen wollen, das Leben der Menschen sei eine Rechenaufgabe? Sind es die Energieversorger oder sind es die Energieverbraucher? Oder die Physiker? Die Geologen? Die Architekten? Die Statiker? Die Statistiker? Die Juristen? Die Terrorbekämpfer? Die Risikoforscher? Die Versicherungsmathematiker? Vielleicht aber auch die Anrainer von Atommeilern oder von Windkraftanlagen? Man sieht leicht, dass hier schon die Auswahl über das Ergebnis entscheidet.

Noch um einiges interessanter als das Verlangen nach wissensgestützter Expertise ist allerdings die Erwartung, die ihm zugrunde liegt. Offenbar geht es darum, die Ebene der Meinung und des laienhaften Verständnisses zu überwinden, um diese durch objektive Erkenntnis und dementsprechend durch Richtigkeit zu ersetzen. Genau dies aber kann, aller großzügig alimentierten Politikberatung durch Wissenschaft zum Trotz, nicht funktionieren. Menschen, die handeln, können in der Regel gar nicht abwarten, bis die Zusammenhänge gründlich erforscht, die letzten Sachfragen geklärt und alle Konsequenzen durchdacht sind. Gefragt ist weniger eine Expertise, die sich auf Gewissheit beruft, als die Fähigkeit, angesichts fehlender Gewissheit dennoch verantwortungsbewusst zu handeln.

Die Vorstellung, politisches Handeln in einer Frage von der Reichweite des Atomausstiegs und der langfristigen Energieversorgung auf solides Wissen gründen zu können, ist eine Illusion. Das Majoritätsprinzip der Demokratien trägt dieser skeptischen Einsicht in die Grenzen des Wissens von jeher Rechnung.

In einer hochkomplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft verschärft sich dieses Problem, denn hier liegt das Spezialwissen meist bei den wenigen. Die Urteilskraft aber und damit die Entscheidung liegt nach wie vor bei den vielen. Und dort muss sie auch bleiben: Nicht, weil die vielen oder der neuerdings gern bemühte "Schwarm" so intelligent wären, sondern weil die Experten in Fragen, die historische Dimensionen erreichen, keinen Deut klüger sind und es auch niemals sein werden.

Es gilt also, der Versuchung der absoluten Entscheidung zu widerstehen und den Mut aufzubringen, sich auf die Unsicherheiten der Meinung einzulassen. Die Arbeit gerade eines guten, eines umsichtig agierenden Beratergremiums wird nicht in einen unumstößlichen Beschluss ausmünden, der sich auf endgültige Wahrheiten beruft, sondern in etwas Vorläufiges: in einen Vorschlag zur Güte. Im Gegenzug darf allerdings erwartet werden, dass dieser Vorschlag, eben weil er so vieles offenlassen muss, bestmöglich begründet ist. Er muss stark und belastbar genug sein, um nachhaltige Entscheidungen wie diejenigen, die jetzt anstehen, auch nachhaltig zu tragen.