Fortsetzungsroman, Teil 5: Sechs Hamburger Autoren taufen “Mein Schiff 2“ mit Sprache. Heute schreibt Karina Lübke über eine Inszenierung voller Risiken und Nebenwirkungen

Hamburg. Was bisher geschah: Ein verheirateter Schriftsteller und seine Koautorin schreiben eine Erzählung, die auf einem Kreuzfahrtschiff spielt und vielleicht mit Mord endet. Doch die beiden verbindet mehr als das Schreiben, sie haben eine heimliche Affäre, und die Ehefrau kommt ihnen auf dem iPad ihres Mannes auf die Spur. Sie beschließt, ein Abenteuer zu erzwingen. Im Restaurant Schiffsmeldungen spricht sie einen Mann an, der gerade "Titanic" liest, und fragt ihn: "Bereit für ein Experiment?" Hier Teil 5 von Karina Lübke:

"Verdammt! STOP! So kann ich das einfach nicht sagen! Ich meine ..." Sie warf ihre langen blonden Haare zurück und deklamierte den Text übertrieben, mit affektierter Geste, gleich noch einmal in die Runde: "Indes suche ich nach einem Mann, der mich hier an Ort und Stelle oder meinetwegen drüben auf dem Schiff, in einer Nacht rund um Helgoland, in eine erotische Erregung versetzen kann ... (hier stöhnte sie ironisch auf) ... ohne mich auch nur einmal zu berühren ... (angedeuteter Michael-Jackson-Griff in den Schritt) ... und das sage ich Ihnen gleich ... (ekstatisches Keuchen) ... ich möchte, während mich Ihre Worte in die Sphären der Wollust katapultieren, das Rauschen der Ozeane hören!"

Die wenigen Gäste, die am späten Nachmittag in der Hamburger Hafencity am Kaiserkai noch auf der Terrasse des Restaurants Schiffsmeldungen ein Glas Wein und den direkten Blick auf Elbe und Hafen genossen, blickten sich hanseatisch diskret nach der attraktiven Frau um, die eigentlich so gar nicht sexuellen Notstand ausstrahlte. Die verzog nun das Gesicht und sah den Regisseur und die anderen Akteure empört an, die grinsend um sie herum saßen oder am Geländer lehnten: den attraktiven "Autor Tristan" mit den frauenmörderischen Absichten und seiner ewigen Zigarette in der Hand, seine kunstsinnige Geliebte "Isolde" und den "Mann mit der 'Titanic'", der eigentlich der aktuelle Freund des Regisseurs war, aber in seiner Rolle als Statist auch mit an Bord gehen durfte. Gegenüber dem Lokal entstand seit Jahren das monumentale weiße Gespenst, das einst als Elbphilharmonie den Ton in der Konzertwelt angeben sollte - wenn es denn je fertig würde. Atemberaubend war der Bau allerdings jetzt schon, vor allem waren es die Kosten.

"Halloooo?" Sie warf das Manuskript schwungvoll auf den Holztisch und trank ihren Weißwein aus, ehe sie weiter polemisierte: "Also echt! So redet doch kein Mensch, vor allem keine seit Jahrzehnten unbefriedigte Gattin, Typ Theaterabonnentin - ich meine, DIE will doch wohl erst recht mal wieder richtig angefasst werden, oder? Und mehr als das!"

Da merkt man wieder total, dass der Autor ein Mann ist, dachte sie, Männer hoffen ja immer, ihre Stimme allein würde notfalls einer Frau als Shuttle in die Sphären der Wollust ausreichen. Falls einer dazu hässlich war, redete er sich das schön und behauptete einfach poetisch, dass man eigentlich "nur mit dem Herzen gut" sehen könne. Mit Schaudern überschlug sie, wie viele Männer schon versucht hatten, sie mit den ewig gleichen Passagen aus "Der kleine Prinz" ins Bett zu zitieren, in guter Hoffnung, literarisches Viagra für Frauen entdeckt zu haben. "Also, was soll dieser Text nun konkret bedeuten, bitte? Ich kann's mir nicht vorstellen. Vorschläge?"

Schon seit mehreren Wochen probten die Schauspieler zusammen ihre szenische Lesung mit mörderischem Höhepunkt, die sie in der Erlebnisgastronomie des Kreuzfahrtschiffes unter Einbeziehung des Publikums aufführen sollten, während dieses gerade nicht mit Champagner, Langusten oder dem auch im Stück eine tragische Rolle spielenden "Teller mit Spaghetti, Tomaten und Auberginen" beschäftigt war.

"So 'ne Art Brainfuck?", mutmaßte der Regisseur ratlos, der auch eine Art Mann war. "Aber okay, das muss wahrscheinlich wirklich noch mal umgeschrieben werden. Da sind überhaupt so ein paar Sachen drin ...", er hob ihr Skript auf und durchblätterte es, "... Hier, das Dissing vom Hamburger Abendblatt fliegt dabei wahrscheinlich auch mit raus, wir müssen es uns ja nicht gleich mit der örtlichen Presse verderben. Ach, kommt, wir machen Schluss für heute. Ich rede heute Abend noch mal mit dem Autor, haaach, ihr wisst ja, wie empfindlich die sind, da muss man diplomatisch sein! Dann baut er uns bis zur Jungfernfahrt vielleicht noch den einen oder anderen echten Höhepunkt ein ..." Er seufzte und zog sich seinen schwarzen Existenzialistenpulli über, der bisher dekorativ seine weichen Kaschmirärmel um seinen Hals geschlungen hatte. Sie warf das Manuskript in ihre Tasche und verabschiedete sich schnell, froh, endlich nach Hause zu kommen. Sie war, entgegen ihrer Rolle als "bekennende Eppendorferin", eine überzeugte Einwohnerin Altonas und lebte in einer Wohnung im ehemaligen dänischen Zollamt an der Elbchaussee.

Jeden Morgen stand sie als Erstes mit ihrem Milchkaffee am Fenster und blickte den Elbhang hinab auf das weite Panorama aus Hafenanlagen und Köhlbrandbrücke, die den breiten Strom als stählerner Regenbogen überspannte. Das Wasser darunter sah täglich anders aus - silbermetallic, himmelblau, schwarz spiegelnd, dunkelgrau, es floss seidigglatt dahin oder wurde vom Sturm hochtoupiert. Schiffe aller Arten und Größen glitten darauf ein und aus und erregten ein ewiges, süßes Fernweh. Nein, sie wollte nicht vom balzenden Gurren satter Scheiß-Tauben unter der Isestraße geweckt werden, sondern durch hungrige Möwenschreie, die sie im Halbschlaf glauben ließen, direkt am Meer zu leben oder per Schiff auf dem Seeweg zu neuen Ufern zu sein.

Ihre Träume strömten mit der Elbe fernen Horizonten entgegen, statt an der Alster dahinzuplätschern. Deshalb hatte sie auch sofort zugesagt, als der Regisseur, den sie vom St.-Pauli-Theater kannte, fragte, ob sie an einem Engagement auf einem neuen Kreuzfahrtschiff interessiert sei. Da sie keine Kinder und gerade auch weder einen festen Freund noch eine feste Anstellung hatte, konnte sie sich die große Freiheit nehmen; sie war sich dessen sehr bewusst und voller Vorfreude. Schon bald würde sie vom Oberdeck des Schiffes zu ihrem Aussichtsfenster hochschauen können. Ihre Rolle in dem Stück, das als kulturelles Event ein allabendliches, exklusives Dinners rahmte, spielte sie bereits ziemlich gut - obwohl sie alles verkörperte, was sie nie sein wollte: eine sexuell frustrierte, einsame Ehefrau und verlassene Mutter, die sich kleine Fluchten genehmigte, aber unfähig zur Flucht aus ihrer Ehe war, gefesselt durch Routine und die gemeinsame Vergangenheit an einen Mann, der seinen klugen Kopf als seine erogenste Zone lieber mit einer anderen teilte.

"WARTE! Auf ein letztes großes Abenteuer ...", rief ihr der "Tristan" mit seiner schönen Theaterstimme hinterher. Jetzt hatte er sie eingeholt und begleitete ihren Fußweg durch die Feininger-blaue Stunde, aus den Schluchten der glasspiegelnden Neubaufassaden, über Baustellen und Brücken, zurück zwischen die großen, warmen Backsteinleiber der alten Speicher- und Kontorhäuser. "Ach, von letzten großen Abenteuern möchte ich noch sehr viele erleben", sagte sie, "wer weiß, vielleicht ist ja der Tod selber das größte Abenteuer, weil er das Letzte ist, was man überhaupt noch zum ersten Mal erleben kann?"

"Warum so morbid heute?", fragte er, "es gibt doch noch genug andere erste Male und Sensationen!" Ein klarer, frischer Wind vom Wasser wehte alle Sorgen und Gedanken fort. "Tristan" lachte: "Zum Beispiel, dass ich für meine Rolle als rauchender Autor endlich mal wieder jeden Abend in einem Restaurant rauchen darf!"

"Deine Kettenraucherei ist soooo Achtziger! Aber dafür hast du wirklich noch eine erstaunlich gute Stimme", machte sie ihm ein für sie typisch tadelgespicktes Lob. "Ich muss mich aber Gott sei Dank nicht nur auf meine Stimme verlassen, um Frauen in ,Sphären der Wollust' zu katapultieren", sagte er und legte selbstsicher seinen Arm um sie, warm und fest. Dann deklamierte er dramatisch: "You can call me Moby Dick. Also, falls du vor Sonnenaufgang wirklich noch ein letztes großes Abenteuer erleben willst ..."

"Dann ...?", fragte sie, obwohl sie die Antwort wusste, seitdem sie vor ein paar Wochen für die Proben erstmals aufeinandergetroffen waren. "... werde ich mir heute Nacht etwas einfallen lassen", versprach er ...

Karina Lübke war Kolumnistin für "Tempo", "Elle", "Cosmopolitan", ist Drehbuchautorin

Morgen lesen Sie ...

... die Episode von Hellmuth Karasek. Sie lesen von Gedanken an eine gewaltsame Lösung, einer Seenotsituation, einem Bermudadreieck gedanklicher Ausweglosigkeit und einem Blaulicht-Einsatz am Ende eines Schäferstündchens.