Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt jede Woche über einen außergewöhnlichen Fall

Hamburg. Es wirkt wie ein nervöses Fingerspiel. Die eigenwillige Beschäftigungstherapie eines Unruhigen. Unablässig räumt Mostafa S. die vielfältigen Medikamente, die er mitgebracht hat, aus einer Plastiktüte, sichtet, sortiert, schiebt sie zurück, holt sie hervor, fingert an ihnen herum. Doch ausgerechnet jene Medikamente, die in diesem Strafprozess vor dem Amtsgericht eine zentrale Rolle spielen, hat der Hamburger nicht dabei - verschreibungspflichtige Methadon-Präparate, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Und von denen Mostafa S. laut Anklage im vergangenen Juli an der Davidstraße sechs Tabletten illegal an einen Drogenkonsumenten verkauft haben soll. Er soll ein Dealer sein?

Der Angeklagte schnaubt wütend und wischt mit einer ungeduldigen Handbewegung die Vorwürfe beiseite. Es fällt tatsächlich schwer, sich ihn als Rauschgifthändler vorzustellen mit seinem gemütlichen Bauch, der hohen Stirn, mit seinen 57 Jahren schon fast im Rentenalter und wegen eines Rückenleidens mit einer Krücke unterwegs. "Falsch" sei die Anklage, wettert Mostafa S. "Ich war zwar da, aber ich war die ganze Zeit allein." Und die Methadon-Tabletten, die seinerzeit bei ihm sichergestellt wurden, "dafür habe ich Rezepte", als ehemaliger Drogenkonsument werde ihm das Präparat regelmäßig verschrieben, versetzt er ungehalten und mit Zornesfalte auf der Stirn. Es ärgere ihn maßlos, dass er wegen der angeblichen Tat schon zum dritten Mal ins Gericht müsse. Zwei vorangegangene Termine waren geplatzt, weil ein wichtiger Zeuge nicht erschienen war. "Reine Zeitverschwendung", findet Mostafa S. und schüttelt fassungslos den Kopf.

Doch ein Polizeibeamter ist sich sicher, den 57-Jährigen bei einer verdächtigen Handlung beobachtet zu haben. Er habe damals als Zivilfahnder "ein Auge auf die Drogenszene" gehabt, sagt der Polizist. Und an jenem Tag im Juli sei er auf den Angeklagten aufmerksam geworden, als dieser per Handzeichen Kontakt zu einem anderen Mann aufgenommen habe und der sich ihm genähert habe. Vermutlich ein Tablettenstreifen, jedenfalls "etwas Silbriges", sei übergeben worden, dann hätten sich beide getrennt. Über Funk alarmierte der Beamte Kollegen, die etwa 200 Meter weiter Mostafa S. überprüften und bei einer Durchsuchung mehrere Methadon-Tabletten fanden, außerdem hatte er zwei Euro Bargeld bei sich.

Der Angeklagte will es ganz genau wissen. Ob der Polizist ihn "sofort" für verdächtig gehalten habe oder "erst später"? Der Beamte meint, der 57-Jährige sei jedenfalls "optisch nicht in die Drogenszene passend" gewesen. Und aus welcher Entfernung habe der Beamte die angebliche Übergabe der Drogen beobachtet, hakt der Angeklagte nach. Etwa 15 Meter, schätzt der Polizist. Unmöglich sei es, befindet Mostafa S., aus dieser Distanz eingeschweißte Tabletten zu erkennen. "Das kann noch nicht einmal ein Apotheker, und der hat den ganzen Tag damit zu tun", meint er.

Rückendeckung bekommt Mostafa S. von dem Zeugen, der laut Anklage die Drogen von ihm gekauft haben soll und bei dem tatsächlich sechs Methadon-Tabletten sichergestellt wurden. Doch der Dealer, von dem er dieses halbe Dutzend Pillen erhalten habe, verkündet der 39-Jährige, sei ein ganz anderer gewesen. 30 Euro habe er jenem Mann für Drogen gegeben. "Der hatte schwarzes Haar und Locken und war viel größer."

Zu viele Zweifel, zu wenig Konkretes, findet der Staatsanwalt und beantragt Freispruch für Mostafa S. Und so lautet auch das Urteil. Es sei zwar etwas vom Angeklagten an den Zeugen übergeben worden, sagt der Richter. Aber dass es aus der Ferne so ausgesehen habe wie Tabletten, reiche nicht zu der Überzeugung, dass es sich wirklich um die verbotenen Pillen gehandelt habe. Auch die zwei Euro Bargeld, die der 57-Jährige bei seiner Durchsuchung bei sich hatte, sei kaum die Summe, die bei einem Rauschgifthändler nach einem erfolgreichen Drogenverkauf zu erwarten wäre. "Und dass jemand Drogengeschäfte ohne Bezahlung getätigt haben soll, erscheint unwahrscheinlich."

Mostafa S. wirkt versöhnt. Seine Stimmung steigt, schwungvoll greift er mit der einen Hand nach seinen Tabletten und mit der anderen nach seiner Krücke. Er habe schon gemeint, sagt er, dass er angesichts seines Prozesses "das Vertrauen in den Rechtsstaat verlieren müsse. Aber mit diesem Urteil habe ich dieses Vertrauen wiedergefunden."