Fortsetzungsroman, Teil 4: Sechs prominente Hamburger Autoren taufen “Mein Schiff 2“ mit Sprache. Heute schreibt Hubertus Meyer-Burckhardt

Hamburg. Was bisher geschah: Ein verheirateter Schriftsteller und seine Koautorin schreiben eine Erzählung, die auf einem Kreuzfahrtschiff spielt und vielleicht mit Mord endet. Doch die beiden verbindet mehr als das Schreiben, sie haben eine heimliche Affäre, und die betrogene Ehefrau kommt ihnen auf dem iPad ihres Mannes auf die Spur ... Hier Teil 4 von Hubertus Meyer-Burckhardt:

Es half ihr die Erinnerung. Als sie ihn das erste Mal wahrnahm, sprach er - wenig. Das gefiel ihr. Seine Körpersprache überzeugte mehr als sein Konjunktiv. Er verließ das Kino und lud sie, die dort wartete, auf ein Bier ein. Er stellte es ihr einfach hin, auf den Stehtisch im kleinen Foyer. "John Sturges."

"Angenehm", stotterte sie. "Sie sind Amerikaner?"

"Nein, das ist der Regisseur des Films, den ich eben angesehen habe", knurrte er gnädig und fuhr fort: "'Die glorreichen Sieben'. Remake."

"Remake? Ah, und wer war der Regisseur, der die Vorlage gedreht hat?" Sie gewann langsam etwas Land.

"Japaner. Kennst du nicht."

Ihre Finger kreisten über der Glasplatte des iPad wie Raubvögel über dem Feld. Jederzeit zum Angriff bereit. Die Träne, die fiel, war willkommen und doch zugleich das Maximum, das Altona an Emotion zuließ.

Die Eisgans wollte einen, der in die Stadt einritt, keinem erzählte, wo er herkam, geschweige denn, wo er hinritt. Und nun, in den jahrelangen Mühlen der sogenannten Partnerschaft, war er zur Bonsai-Variante eines Hans Christian Andersen mutiert, der ihr "Die Prinzessin auf der Erbse" vorlas, um damit "skandinavische Literatur vor dem Vergessen" zu bewahren.

Ja! Sie war nie woanders gewesen als in Hamburg! Ja!

Sie hatte nie den Arsch in der Hose gehabt, mal was Eigenes woanders auf die Beine zu stellen! Aber war Kant je außerhalb Königsbergs gewesen? (Dieses Argument hatte sich vor Jahren ein Germanist zunutze gemacht, dem sie sich an einem Sonnabendabend anvertraut hatte und der wusste, dass der Aufbau ihres Selbstvertrauens ein Transmissionsriemen in ihr Bett sein könnte. Der Germanist war weg, das Argument blieb.) Sie überlegte, wie sie in die Geschichte würde eindringen können und damit in diese widerliche Kooperation ihres Mannes mit diesem Literaturflittchen aus Eppendorf, das wahrscheinlich schon beim Anblick eines Suhrkamp-Bändchens erotisch unter Strom geriet. Sie litt darunter, dass sie zwar die technischen Voraussetzungen zur Verfügung hatte, diese ihr bisher verschlossene Welt zu betreten, aber es war auch nicht zu bestreiten, dass ihr Mann eine Rolle eingenommen hatte - ausschließlich um der Verführung willen. So, wie sie damals tatsächlich angenommen hatte, dass er aus einem Film des ihr damals nicht bekannten Regisseurs John Sturges gekommen war - tatsächlich hatte er lediglich die öffentlich zugängliche Toilette des Programmkinos aufgesucht -, so musste sie jetzt erkennen, dass er zur Verführung und Vernichtung des aktuellen Zielobjektes aus dem Ensemble seiner multiplen Persönlichkeit jemand an den vorderen Bühnenrand gezerrt hatte, gegen den der alte Suhrkamp-Verleger Unseld (Gott hab ihn selig) eine introvertierte, uneitle und ungebildete Figur war.

Und das faszinierte sie und erschütterte sie in gleicher Weise.

Sie erhob sich, schaute aus dem Fenster. "Falls er vor Sonnenuntergang noch ein letztes großes Abenteuer erleben wollte ..." Sie schmeckte seine Worte mit Geringschätzung ab. Lächerlich. Die Amsel, die auf einem Baum unmittelbar vor dem Fenster saß, ihr den gefiederten Rücken zugedreht hatte und in ebendiesen Sonnenuntergang schaute.

Wollte dieser Vogel noch was "erleben"? Kaum. Er schaute einfach in die Welt, friedlich. Eine Idylle. Aber ihr war nicht nach Idylle. Sie wollte ein Abenteuer erzwingen.

Sie entsann sich eines Theaterstücks. Deutsches Schauspielhaus. Lange her. Die Eindrücke, die sie außerhalb einer Bühne sammelte, hafteten länger und tauchten wie der Refrain eines schlechten Soldatenliedes penetrant immer wieder auf. Also! In diesem Theaterstück kamen die Protagonisten einander sehr nah, indem sie zwei Spielregeln beachteten: Sie und er durften einander nicht berühren, gleichzeitig aber verstanden sie es, sich durch Worte in größte erotische Erregung zu versetzen. Und: Wie bei Tristan und Isolde - zumindest bei Wagner - spielte in diesem Stück der Gedanke des gänzlichen Verlöschens der menschlichen Existenz im Tode eine Rolle, eine große Rolle sogar. Sie ging zur Wohnungstür und horchte in das Treppenhaus hinein. Gerade verließ das ältere Ehepaar seine Wohnung im fünften Stock und schritt vorsichtig die gebohnerten Stufen hinab. Unterhaltung, Getuschel, unterdrücktes Lachen. "Wie macht man das nach so vielen Jahrzehnten?", fragte sie sich bitter.

Nachdem draußen Ruhe eingekehrt war, nahm sie ihren Mut zusammen und ging hinunter, verließ das Haus, überquerte die Straße und betrat ein Restaurant mit dem Namen "Schiffsmeldungen" gegenüber dem Pier, an dem das Kreuzfahrtschiff vertäut war.

Das Interieur kannte nur zwei Farben, Schwarz und Weiß. Durchgehend. Wer irgendwo eine Farbe fand, und sei es auch auf dem Klo, bekam ein Getränk aufs Haus. Die Damen sahen alle aus wie Art Directors von Holger Jung. Keine Farben, kein Lippenstift, kein Busen.

Blitzschnell verschaffte sie sich einen Überblick und setzte sich dann, ohne eine Sekunde zu zögern, an den Tisch eines Mannes, der gerade "Titanic" las. Allein saß er da und hörte ihre Frage, mit fester Stimme vorgetragen: "Bereit für ein Experiment?"

Sie wartete seine Antwort nicht ab. "Ich bin weder Kuratorin noch ...", sie blickte auf sein Magazin, "... noch irgendwie in den Medien. Indes ..." - das Wort hatte ihr Mann ihr überlassen, ohne dass sie sich dagegen hätte wehren können - "... suche ich nach einem Mann, der mich hier an Ort und Stelle oder meinetwegen drüben auf dem Schiff, in einer Nacht rund um Helgoland, in eine erotische Erregung versetzen kann, ohne mich auch nur einmal zu berühren. Und - das sage ich Ihnen gleich - ich möchte, während mich Ihre Worte in die Sphären der Wollust katapultieren, das Rauschen der Ozeane hören."

Der Mann blickte verstört, rang nach Worten. Sie schloss die Augen und hauchte: "Toi, toi, toi!"

Morgen lesen Sie ...

... die Episode von Karina Lübke. Sie lesen von einer überraschenden Wendung, großem Theater in der HafenCity, literarischem Viagra, einem mörderischen Höhepunkt - und einer Schauspielerin, die auf einem Kreuzfahrtschiff die Rolle der frustrierten, einsamen Ehefrau übernehmen soll.