Die Umkehr kann nur als Gemeinschaftsprojekt des ganzen Landes funktionieren. Regierung und Opposition müssen ihre Chance nutzen und sich über die Details einigen

Die Hoffnung hielt nur einen Tag. Es war die Hoffnung, Regierung und Opposition würden die Verkürzung der Atommeiler-Laufzeiten und die damit verbundene Energiewende sachorientiert und ohne das übliche leidige Politiker-Gezänk umsetzen. So hatten sie es alle im Kanzleramt versprochen, als Angela Merkel ihren Zeitplan vorstellte. Doch schon einen Tag später begann das Zündeln. "Mein Eindruck ist, dass die Kanzlerin bislang keinen Konsens anstrebt, sondern nur so tut", erklärte SPD-Chef Sigmar Gabriel. Seine Generalsekretärin Andrea Nahles nannte Merkels Ausführungen "nebulös".

Soll das in den nächsten Wochen so weitergehen? Werden sich Union, FDP, SPD und Grüne - statt über die schwierigen Einzelheiten der neuen Energiepolitik zu diskutieren - mal wieder gegenseitig falsche Konzepte, Unehrlichkeit, Blockade-Versuche und parteipolitische Tricks vorwerfen? Sie sollten es unterlassen. Schließlich sind inzwischen alle für die Energiewende. Das schließt Meinungsunterschiede in Einzelfragen nicht aus, aber grundsätzlich erwarten die Wähler eine überzeugende Einigung.

Als abschreckendes Beispiel dafür, wie der Politikbetrieb zum uneffektiven selbstgefälligen Ritual werden kann, wie Parteien-Streit nicht belebt, sondern abstößt, haben wir alle noch die Verhandlungen um die Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze vom Jahresanfang in Erinnerung. Da schien es den Politikern wochenlang nicht um die Betroffenen zu gehen, sondern nur um sich selbst. Und sie haben es selbst gespürt. "Für die Politik wird das nicht ohne Schaden bleiben", kommentierte Thomas Oppermann (SPD) das Verhandlungsgewürge. Und Wolfgang Böhmer (CDU) forderte endlich eine Lösung, "sonst schadet das der Gesamtheit der Politik".

Bei der Energiewende haben die Politiker nun die Gelegenheit, solchen Erkenntnissen bessere Taten folgen zu lassen. Diese Wende, die ja wirklich nur als Gemeinschaftsprojekt des gesamten Landes funktionieren kann, bietet die Chance, neues Vertrauen in die Abläufe der parlamentarischen Demokratie zu schaffen. Allerdings vielleicht schon die letzte Chance, denn in den vergangenen zwölf Monaten ist dieses Vertrauen nachhaltig erschüttert worden.

Die Verwerfungen des deutschen Politiksystems begannen im Mai 2010 mit dem Rücktritt von Bundespräsident Köhler, an dem die meisten Bürger nicht Köhler, sondern der Berliner Politik die Schuld gaben. Es folgten das Sarrazin-Buch, die Demonstrationen gegen Stuttgart 21. Und schließlich wurde Verteidigungsminister Guttenberg vor allem deshalb zum Star, weil er sich als ehrlicherer, offenerer, prinzipientreuer ausgab als all die anderen Politiker.

"Der Aufstieg und der Fall Guttenbergs sind Symptom für die Krise der parlamentarischen Demokratie", analysierte SPD-Chef Gabriel Anfang März in einem Interview mit der "Rheinischen Post". "Die Menschen sehnen sich offenbar nach Projektionsflächen, weil ihnen der politische Alltag zu grau, zu technokratisch, zu alltagsfern und zu selbstbezogen erscheint. Dass es in der Politik um das Gemeinwohl geht, glauben viele Menschen nicht mehr."

Wahr gesprochen, Herr Gabriel. Der Start des SPD-Chefs in die Gespräche um die Energiewende deutet allerdings nicht darauf hin, dass er seine eigenen Worte ernst nimmt. Dabei hat sich die Ausgangslage, die von Gabriel diagnostizierte Krise zu überwinden, deutlich verbessert. Guttenberg, der Antipolitiker, hat sich selbst als Blender entlarvt und den Blick wieder frei gemacht für Pflichtbewusstsein und ordentliche Sacharbeit. Und das Atomthema hat nach der Katastrophe in Japan wieder Menschen an die Demokratie herangeführt, die sich schon in der viel zitierten Politikverdrossenheit eingerichtet hatten. In Baden-Württemberg stieg die Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl um zehn Prozent, sogar die CDU als Verliererin bekam noch mehr Stimmen als bei ihrem Wahlsieg vor fünf Jahren.

Die Aufmerksamkeit der Wähler ist da, umso mehr erwarten sie nun aber bei der Energiewende seriöse ergebnisorientierte Politik. Die kommenden Wochen dürfen nicht zu einem Wettstreit dazu verkommen, wer warum schon immer recht gehabt hat. Und es ist auch nicht unbedingt derjenige der beste Politiker, der die früheste Jahreszahl für die Abschaltung des letzten Atomkraftwerks fordert. Die Energiewende, von den Parteien zum Vorwahlkampf missbraucht, kann den Abstand zwischen Politikern und Wählern weiter vergrößern. Sie kann aber auch, klug umgesetzt, eine Politikwende in Deutschland einleiten.