Fortsetzungsroman, Teil 3: Sechs prominente Hamburger Autoren taufen “Mein Schiff 2“ mit Sprache. Heute schreibt Stefan Aust über einen Hackerangriff aus Eifersucht

Hamburg. Was bisher geschah: Ein verheirateter Schriftsteller und seine Koautorin schreiben eine Erzählung, die auf einem Kreuzfahrtschiff spielt und vielleicht mit Mord endet. Doch die beiden verbindet mehr als das gemeinsame Schreiben, sie haben eine heimliche Affäre ... Hier Teil 3 von Stefan Aust:

Was hatte sie schon erlebt, mit ihren 48 Jahren. Eine behütete Kindheit in Harvestehude, ein Jurastudium, durch das sie sich mithilfe junger, karrierebewusster Kommilitonen gemogelt hatte, unterbrochen von Teilzeitjobs bei diversen Zeitschriften und gelegentlichen Auftritten als Model. Jetzt verheiratet, drei Kinder, die im Begriff waren, aus dem Haus zu gehen. Da saß er nun, ihr Ehemann, vertieft in eine Zeitung, die er vor allem abonniert hatte, um beim Frühstück nicht reden zu müssen. Ein überregionales Blatt, auch nicht mehr das, was es früher einmal war, seit es auf modern getrimmt worden war. Ein Layout, das mit dem Inhalt nicht übereinstimmte, unharmonisch mit viel Freiraum, als wäre die Zeitung zu groß für den Inhalt. Wie wir alle, dachte sie, zu groß für unseren Inhalt.

Sie wäre gern Ärztin geworden, oder Fernsehmoderatorin. Zu spät, dachte sie. Sie blickte auf ihren Mann. Selbst den Termin für die silberne Hochzeit wird er vergessen. Und sie nahm sich vor, ihn nicht daran zu erinnern, damit sie sich im Falle seines Vergessens besser darüber aufregen könnte.

Gleich wird er wieder in die Hauptstadt fahren, dachte sie. Dort hatte er sein zweites Leben, seinen Job. Sie war nie in seinem neuen Büro gewesen und konnte nur erahnen, welche langbeinigen Blondinen ihm dort seinen Kaffee servieren würden. Und am Abend würde er sicher wieder in einer dieser Szenekneipen herumsitzen, wahrscheinlich nicht allein. Sie malte sich schmerzhaft und genüsslich aus, wie er mit einem Charme, auf den sie auch einmal hereingefallen war, die jungen Dinger bearbeiten würde. Sie würde, schon bevor er das Restaurant verlassen hatte, genau Bescheid wissen, mit wem er wo an welchem Tisch wie lange gesessen hatte. Sollte er, dachte sie müde von einer weiteren schlaflosen Nacht. Viel Vergnügen würden die jungen Dinger nicht mit ihm haben, wenn er es denn wider Erwarten schaffen würde, eine von ihnen abzuschleppen. Eigentlich war es ihr egal. Er wusste ja auch nicht, wie ihre wirkliche Beziehung zu diesem Reeder war, den ein paar Milliarden Kredite unangreifbar für die Banken gemacht hatten.

Aber eines beunruhigte sie doch: dieses Gerücht, dass er, der immer einen Roman schreiben wollte, aber nie über die Klatschseite der kürzlich nach Berlin umgesiedelten Tageszeitung hinausgekommen war, jetzt seinen Lebenstraum mithilfe einer anderen Frau verwirklichen wollte. Einen Roman schreiben, mit einer anderen Frau. Intimste Überlegungen teilen, Fantasien austauschen, Dialoge entwerfen, die doch nur ein billiger Abklatsch jener Dialoge sein würden, die sie in all den Jahren der Ehe niemals geführt hatten. Isolde, so hatten ihre Späherinnen und Lauscherinnen ihr signalisiert, das sei der Name. Ob der Titel des Buches, der Hauptperson oder der Koautorin, das hatten sie bisher nicht herausfinden können.

Sie blickte auf ihren Ehemann, der immer noch in seine Zeitung vertieft war. Er schaute nicht auf. Sie hustete leise. Er schaute nicht auf, sondern hustete ebenfalls leise. Sie nahm ihre Kaffeetasse in die Hand und setzte sie klirrend wieder auf. Ihr Mann zuckte kurz zusammen, richtete seinen Blick aber weiter fest auf die Zeilen seiner Zeitung. Sie kippte die Tasse um. Der Kaffee lief über die Tischdecke, saugte sich in das weiße, frisch gebügelte Baumwolltuch. Langsam arbeitete sich der braune Fleck auf den weißen Ärmel seines Oberhemdes zu. Regungslos starrte sie auf ihren Mann, der immer noch nicht reagierte. Bodenlose Wut stieg in ihr auf.

Leise sagte sie: "Wie wäre es mit einer Schiffsreise, Kreuzfahrt, auf einem Kreuzfahrtschiff?"

"Ist schon wieder November?" fragte er.

"Noch nicht, aber bald."

"Wenn immer nieselnder November meine Seele erfüllt ..." sagte er, und sie ergänzte: "Und ich mich dabei ertappe, vor jedem Sarggeschäft stehen zu bleiben und hinter jedem Leichenzug einherzutrotten ..."

"Dann weiß ich, es ist Zeit für mich aufs Meer zu gehen."

Sie lachte. "Heute schaffen wir es noch maximal bis zum Hamburger Hafen."

"Du kennst es noch. Und du weißt auch noch, wie es weitergeht?"

"Das erspart mir den Pistolenschuss."

"Mit großer Geste stürzte sich der Römer Cato in sein Schwert. Ich begebe mich still an Bord."

Sie legte ihren Arm auf seinen weißen Ärmel, leicht nördlich vom braunen Kaffeefleck und dachte über jene Zeit vor vielen Jahren nach, als sie auf einer Urlaubsreise in die Südsee mit verteilten Rollen Hermann Melvilles Klassiker "Moby Dick" gelesen hatten. Das waren Zeiten von Gemeinsamkeit und Austausch von Gedanken, Wünschen und Fantasien. Oder? Ihr fiel ein, dass er damals verbissen einen Tauchkursus absolviert hatte und sie vor allem nachts das Buch über die Jagd auf den weißen Wal, den Leviathan, gelesen hatte, während er die Auftauchzeiten bei diversen Tauchgängen eingeübt hatte. Damals gab es noch Sehnsüchte, und die Seefahrt war ihr gemeinsames Vexierbild all des Unbestimmten und Unbekannten gewesen, das sie gemeinsam erobern wollten.

Nicht dass sie besonders seefest war. Schon auf dem Rücksitz des Volkswagens, mit dem ihre Eltern sie und ihre Geschwister sonntags zu einem Landausflug gezwungen hatten, war ihr regelmäßig schlecht geworden. Sie konnte nur hoffen, dass die auf den Bau von Wohlfühlschiffen spezialisierte moderne Werft des Meeres Wellen besser ausbalancieren konnte als der Käfer ihrer Eltern.

Abrupt stand er auf, zog sein Jackett an und griff sich die Reisetasche und das iPad.

"Call me Ismael", sagte er.

"Nenn mich Isolde", antwortete sie leise

Ihr Mann warf einen kurzen Blick auf sie, winkte knapp mit der Hand und verließ die Wohnung. Sie ging zurück an den Küchentisch, blickte auf den Kaffeefleck und überlegte sich, was sie mit dem vor ihr liegenden Tag anfangen sollte. Eine Schiffsreise. Vielleicht sollte sie eine buchen, vielleicht hatte er sogar Zeit, mit auf die Reise zu gehen, schließlich hatte er immer eine ungezielte Sehnsucht nach dem Meer gehabt. Vielleicht könnten sie noch einmal da anfangen, wo sie aufgehört hatte, zu hoffen, dass es einmal besser würde. Teilte er jetzt seine ungezielten Sehnsüchte mit dieser Frau, dieser geheimnisvollen Isolde? Oder war alles nur Fantasie, seine Fantasie, zu der sie keinen Zutritt hatte?

Sie räumte den Küchentisch ab, verstaute die Butter, den Käse und den Serranoschinken im Kühlschrank und ordnete Teller und Bestecke in die Geschirrspülmaschine ein. Sie nestelte eine Spülkapsel in den dazu vorgesehenen Korb der Maschine und setzte sie in Gang. Als sie das Rauschen des Waschwassers hörte, setzte sie sich auf den Küchenstuhl und griff sich die Zeitung. Unter dem Feuilletonteil lag ein iPad. Sein iPad, wie sie sofort erkannte. Die Hülle war abgegriffener als ihre eigene. Eigentlich fahrlässig, dass sie beide ein so ähnliches Gerät benutzten. Sie schaltete es an.

Es dauerte endlos, bis der kleine graue Apfel mit dem Biss, dem Byte auftauchte. Das Programm war durch ein Codewort geschützt. Sie hatte das Gefühl, der Computer würde sie erwartungsvoll anstarren. Sie hatten ihre Zugangsnummern nie ausgetauscht. Aber sie hatte einen Verdacht gehabt, immer, was sein Codewort sein würde. Sie tippte Moby Dick. Falsch. Sie tippte Ahab. Wieder falsch. Sie hielt inne und überlegte. Wie war noch der Name des Mannschaftsmitglieds des Walfängers Pequod gewesen, des über und über tätowierten Harpuniers, des Mannes aus der Südsee, des edlen Wilden?

Quiqueg, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hämmerte die Buchstaben auf die Glasscheibe des iPads.

Der Befehl an die Maschine funktionierte, es öffnete sich der geheime Denkspeicher ihres Mannes. Sie blätterte durch die E-Mails, seine E-Mails, Ausgang, Eingang, Spam, Gesendet. Nie zuvor in all den Jahren ihrer Beziehung und ihrer Ehe hatte sie seine Briefe gelesen. Sie wusste, wenn er erfahren würde, dass sie seinen Schriftverkehr durchstöbert hatte, würde er gehen, ohne ein Wort zu verlieren. Gleichgültig, ob sich in den Bits und Bytes seiner Kommunikation irgendetwas Verfängliches finden ließe. Aber es war wie ein Rausch, sie musste wissen, wer oder was sich hinter dem Namen Isolde verbarg. Sie gab das geheimnisvolle Wort als Suchbegriff ein, und plötzlich tauchte ein Text auf dem Bildschirm auf. Projekt Tristan und Isolde, sie begann zu lesen:

"Falls sie vor Sonnenuntergang noch ein großes Abenteuer erleben wollte ... Frühstück ... plötzlicher Todesfall ..." Sie erinnerte sich an diese eine von so vielen Schweigestunden am Frühstückstisch, als sie genau das gedacht hatte. Woher kannte er ihre Gedanken? Sie blickte zur Tür, als könnte er jeden Moment zurückkommen, Liebling, Bahn nicht geschafft, ich bleibe hier. Aber er kam nicht, und sie konnte weiterlesen.

"Falls er vor Sonnenuntergang noch etwas erleben wollte ... Frühstück ... plötzlicher Todesfall ..."

Wie konnte er nur so etwas denken. Wollte er sie umbringen, um dann den Rest seiner Tage mit dieser Schlampe zu verbringen? Sie wusste nicht genau, welche Schlampe sie nun eigentlich meinte, aber irgendeine würde schon parat stehen.

War das nun das geheime Protokoll ihrer gemeinsamen Mordgelüste, romanhafte Verschleierung ganz konkreter Pläne oder kindische Spielerei mit den Möglichkeiten, die eine statistische Lebenserwartung von knapp 30 Jahren noch bot? Wieso drehte sich alles um eine Schiffsreise? Wollte er sie an Bord locken, mit ihr Romantik vorschützend vom Bug zum Heck, von Backbord nach Steuerbord das Deck durchstreifen, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang anbeten, die Dünung und die Brandung bewundern und ihr irgendwann, zu irgendeinem passenden Moment den winzigen Stoß verpassen, der ausreichte, um sie von Bord ins Meer zu befördern? Hatte sie nicht erst kürzlich in irgendeiner Zeitung gelesen, dass immer wieder Passagiere verschwanden, auf Nimmerwiedersehen in den unendlichen Wellen? Der heisere Schrei der Möwen als Begleitmusik eines zufälligen oder weniger zufällig gewollten Endes? Schon der Anblick einer Schiffsschraube gab ihr immer wieder Anlass für diese Mischung aus Sehnsucht und Angst. Die Wölbung der Schraubenblätter, die durch einfache Drehung ein Schiff nach vorn bewegen konnten. Wie lange hatte die Menschheit gebraucht, um über Rudern, Segeln und Raddampfer auf dieses einfache Prinzip der Unendlichkeit zu kommen?

Sie stand auf und kramte im Bücherregal hinter der zerflederten Ausgabe von "Moby Dick" eine angebrochene Packung Marlboro hervor. Sie steckte eine der staubtrockenen Zigaretten zwischen die Lippen und suchte nach Streichhölzern. Seit Jahren lag die Packung versteckt hinter dem Buch, für alle Fälle, hatte sie sich gesagt, als sie damals vor zwölf Jahren gemeinsam das Rauchen aufgegeben hatten.

Sie fand keine Streichhölzer und kramte den Toaster aus dem Küchenschrank, drückte den Hebel nach untern und hielt ihn mit einer Hand fest. Mit der anderen Hand faltete sie ein Tempotaschentuch zusammen und steckte es in den Brotschlitz. Erst kokelte das Papier, sanft pustete sie Luft in den Toaster, bis endlich eine Flamme aufloderte. Sie zündete die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Er schmeckte widerlich. Sie hustete und drückte die Zigarette wieder aus.

Ein Tippen mit dem Finger brachte das Buchmanuskript wieder auf den Bildschirm. Sie las weiter. Woher wusste diese Isolde, wie sie dachte, wie sie fühlte, welche verborgenen Wünsche, welchen Hass und welche Angst sie empfand? Woher wusste sie von ihren heimlichen Mordfantasien? Es war, als hätte sie selbst diesen Text geschrieben, heimliche Taufpatin dieser Vorschau und Handlungsvorlage. Ihre Gedanken schweiften zurück.

Während sie die um eine Zigarette reduzierte Marlboro-Packung wieder ins Regal schob, nahm sie die zerfledderte englische Ausgabe von "Moby Dick" in die Hand. Sie hatten das Buch in einem Antiquitätenshop auf Nantucket gekauft, der Insel im Atlantik vor Neuengland, von der die Walfänger im 19. Jahrhundert aus aufgebrochen waren, um den König der Meere zu jagen. Sie hatten am Hafen gestanden, wo auch Ismael auf die See geblickt hatte, getrieben von dem Wunsch, die Welt zu erobern oder wenigstens kennenzulernen. Ein alter Kapitän hatte ihn gefragt, was er denn vorhabe. "Die Welt will ich kennenlernen", hatte Ismael geantwortet. Da nahm der Kapitän ihn an die Hand und führte ihn auf die seewärts gerichtete Seite seines Schiffes. "Was siehst du dort?", fragte der Kapitän streng. Ismael blickte zu Horizont. Außer ein paar Möwen war nicht zu sehen. "Nun", sagte Ismael, "unten das Meer, oben der Himmel und dazwischen der Horizont." Der Kapitän nickte zufrieden. "Richtig. Unten das Meer, oben der Himmel und dazwischen der Horizont. Und so sieht das überall aus, auf dem Meer. Und du willst die Welt sehen?"

Sie hatten beide gelacht, damals am Hafen von Nantucket. Unten das Meer, oben der Himmel und dazwischen der Horizont. Nun gut, manchmal ein paar Möwen. War das nicht auch ein Sinnbild für ihr Leben geworden? Alles immer das Gleiche, wo sie auch immer waren. Nur der Horizont verschwand langsam im Nebel des täglichen Einerleis. Sie wischte mit dem Zeigefinger über die Seiten. "Was mit ihnen im Verlaufe der Geschichte wird, überlasse ich Dir. Du bist so frei", stand dort zu lesen, an wen auch immer adressiert. Sie dachte einen Moment nach. Ich bin so frei? Warum nicht. Im Eiltempo durchkämmte sie die Textseiten bis zum letzten Satz: "... dass er zuvor bei einem Teller Spaghetti wieder die Antwort schuldig geblieben war." Dann brach die Erzählung ab. Solche Szenen kannte sie. Bei einem Teller Spaghetti die Antwort schuldig bleiben. Nun gut, kochen konnte er. Spaghetti mit Tomaten und Aubergine war seine Spezialität. Genauso wie keine Antworten zu geben.

Sie zog das iPad dichter an sich heran und begann plötzlich auf die Glasscheibe einzuhämmern, als seien es die Tasten einer mechanischen Schreibmaschine. Wenn er denn seinen Roman mit dieser Isolde schreiben wollte, dann würde sie nicht unbeteiligt bleiben. Und wenn es ein geheimer Mordplan sein sollte, dann wollte sie auch daran mitwirken. Heimlich würde sie sich einschalten, in diese elektronische Fortsetzungsgeschichte. Sie würde die Handlung vorantreiben, die romanhaften Wendungen und Windungen ihres Mannes und dieser weiblichen Reflexionsfläche seiner Gedanken steuern. Und wenn es denn keine Fiktion sein sollte, sondern der verschlüsselte Handlungsplan eines Mordkomplotts, dann würde sie auch daran mitwirken. Wie im Rausch tippte sie weiter. Und am Ende würde sie mit einem Kleenex-Tuch ihre Fingerabdrücke auf dem Bildschirm verschwinden lassen. Nur ihre Gedanken wären gespeichert, und niemand konnte später wissen, welche Wendung sie der Geschichte gegeben hatte.

Stefan Aust war "Spiegel"-Chefredakteur, gründete "Spiegel TV" und ist Gesellschafter von N24

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... die Episode von Hubertus Meyer-Burckhardt. Sie lesen von der betrogenen Ehefrau, die in Erinnerungen an glücklichere Zeiten eine Träne vergießt, mit ihrer unerfüllten Sehnsucht hadert, aus Hamburg herauszukommen, und schließlich ein Liebesabenteuer erzwingen will. Auf einem Schiff.