Der Chefökonom der Uno-Organisation für Welthandel und Entwicklung in Genf fordert deutliche Lohnerhöhungen bei uns, damit die anderen konkurrenzfähig werden

Die gegenwärtige Krise der Europäischen Währungsunion (EWU) wird fast ausschließlich unter den Stichworten "Staatsbankrott" oder " griechische Pleite" diskutiert. Da scheint es logisch, über eine europaweite Schuldenbremse für Staatshaushalte nach deutschem Vorbild nachzudenken. Offenbar bringt nach Meinung der Politiker der Rettungsschirm für die Staatshaushalte einiger Länder, den sie selbst aufgespannt haben, keine wirkliche Entlastung. Auch die Kehrtwende der europäischen Zentralbank, die nun doch Staatsanleihen kauft, scheint niemanden zu beruhigen. Die Refinanzierung einiger EWU-Länder und so die Stabilität des Euro-Raumes sind offenbar nach wie vor nicht grundlegend gewährleistet.

Warum sind Wetten gegen den Euro und damit gegen den Bestand der Währungsunion attraktiv? Stehen die USA oder Japan besser da als Europa? Drücken die USA neben den Staatsschulden nicht auch noch hohe Auslandsschulden? Müsste der Wert des Dollar gegenüber dem Euro nicht sinken statt steigen? Einige wollen uns glauben machen, die Finanzmarktakteure nähmen den Europäern ihren Sparwillen nicht ab, weil schon der Stabilitätspakt unterlaufen worden sei. Andere verweisen genau auf das Gegenteil, nämlich die realistische Einschätzung der Finanzmarktakteure, dass die anstehenden öffentlichen Sparorgien das europäische Wachstum über Jahre abwürgen werden, sodass eine Bewältigung der Schulden unmöglich ist.

Der Bürger hört und staunt: Erst 2008/2009 der gewaltige wirtschaftspolitische Eiertanz, bei dem hehre Grundsätze der Haushaltsführung über Nacht zugunsten des Privatsektors ignoriert wurden, ohne dass seither die langfristigen finanziellen Folgen auch nur ansatzweise geklärt oder eine Zügelung der Finanzmärkte in Angriff genommen worden wäre. Und nun der nächste GAU. Obwohl mit unvorstellbaren Summen an Steuergeldern jongliert wird, hat der Euro gemäß dem Erklärungsmuster 'Staatsschuldenkrise' keine Chance, weil entweder nicht genug oder zu viel gespart werden wird.

Wird hier vielleicht über das Für und Wider einer Knieoperation gestritten, während der Patient an Lungenentzündung leidet? Vielleicht hat die Unruhe an den Finanzmärkten damit zu tun, dass weder mit dem Rettungspaket noch mit der Schuldenbremse die Ursachen der Krise beseitigt werden. Was, wenn es bei dieser Krise gar nicht in erster Linie um öffentliche Schulden ginge? Sondern um Schulden ganzer Länder gegenüber dem Ausland? Ein Land wird nämlich nur zahlungsunfähig, wenn ihm entweder die Liquidität in fremder Währung ausgeht, also einer Währung, die der Staat in diesem Land nicht selbst drucken kann; oder es geht pleite, wenn ihm die Liquidität in der eigenen Währung ausgeht, die der Staat mangels geldpolitischer Souveränität nicht eigenmächtig drucken darf - der Fall der Währungsunion also. In beiden Fällen entsteht Währungshunger durch Leistungsbilanzdefizite: Wer weniger einnimmt als ausgibt, steht bei Handelspartnern in der Kreide, braucht deren Geld bzw. Kredite.

Anhaltende Leistungsbilanzdefizite sind die Folge mangelhafter Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Nur wenn die im Ausland hoch verschuldeten Länder wettbewerbsfähiger werden, können sie ihre Auslandsschulden langfristig bedienen. Wettbewerbsfähigkeit gibt es aber nur im Vergleich zu einem anderen Akteur, niemand ist allein wettbewerbsfähig oder nicht wettbewerbsfähig. Das bedeutet zwingend, dass ein Land nur wettbewerbsfähiger werden kann, wenn die Wettbewerbsfähigkeit anderer Länder abnimmt. Mit anderen Worten: Die Gläubigerländer, voran Deutschland, müssen an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, sonst können die Schuldnerländer weder Zinsen zahlen noch tilgen. Dafür müssen die Gläubigerländer nicht unproduktiver wirtschaften, aber die Preis- und Lohnverhältnisse müssen sich zugunsten der Schuldnerländer verschieben. Wer diesen Zusammenhang nicht sehen will, muss sich nicht wundern, dass er bei der Krisenbewältigung keinen Erfolg hat.

Da Europa trotz vieler Nachtsitzungen kein Konzept hat, wie man die Wettbewerbsverhältnisse in der EWU normalisiert, geben die Märkte zurecht keine Ruhe. Solange das wichtigste EWU-Gläubigerland, Deutschland, auf der Preisbremse steht, können die Schuldnerländer nur konkurrenzfähig werden, indem sie den Rückwärtsgang namens Lohnsenkung einlegen. Das heißt: Europa steuert auf eine Deflation zu, die jeden Aufschwung zunichte macht. Wer wollte da Vertrauen haben?