Einer der Angeklagten hat Mandelentzündung. Mutter des Opfers beklagt erneute Verzögerung

Sie sind gekommen, beide. Allein durch ihr Erscheinen haben die mutmaßlichen Täter im "20-Cent-Fall" die Große Strafkammer 27 des Landgerichts gestern vor einer Totalblamage bewahrt. Unter Führung der Kammer war die im März begonnene Hauptverhandlung geplatzt, weil eine Richterin wegen der Vulkanaschewolke in Spanien festsaß. Dann versäumte das Gericht auch noch wichtige gesetzliche Fristen, woraufhin das Oberlandesgericht (OLG) am Dienstag vergangener Woche die Entlassung der Angeklagten aus der Untersuchungshaft verfügte. Zumindest theoretisch bestand die Gefahr, dass sich die wegen versuchten Totschlags und Körperverletzung mit Todesfolge angeklagten Jugendlichen absetzen würden - immerhin drohen ihnen bis zu zehn Jahre Haft.

Doch diesen Super-GAU ersparen Onur K. und Berhan I., beide 17, dem Gericht. Ein Heft vor dem Gesicht, lässt sich Berhan I. von seinem Verteidiger in Saal 398 lotsen, vorbei an den Kameraleuten und Fotojournalisten. Draußen sitzt Onur K. neben seiner Mutter auf einer Bank. Mit seinen kurzen, dunklen Haaren, eher klein und schmächtig, wirkt der Angeklagte sehr kindlich, geradezu monströs türmt sich dagegen der Tatvorwurf auf: Am 12. Juni 2009 sollen er und sein Kumpel Berhan I, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, einen 44 Jahre alten Dachdecker um 20 Cent angebettelt, ihn dann geschlagen und getreten haben. Vier Wochen später starb Thomas J.

Eigentlich wollte sich Onur K. gestern zur Tat einlassen. Doch der auf drei Stunden angesetzte nicht öffentliche Prozess endet bereits nach Verlesung der Anklageschrift - weil Berhan I. plötzlich erkrankt ist. Im Gerichtssaal untersucht ein Arzt Berhan I. und stellt seine Verhandlungsunfähigkeit fest: Der Junge leide unter einer Mandelentzündung. Deshalb wird auch der heutige zweite Verhandlungstag gestrichen, fortgesetzt wird nun am 2. Juni.

Während sein Kumpel Berhan schwieg, hatte Onur K. zu Beginn der ersten Hauptverhandlung zugegeben, dass er das Opfer geschlagen, es aber nicht getreten habe. Die Staatsanwaltschaft, die sich auf Videoaufnahmen und 17 Zeugen stützt, geht indes davon aus, dass beide den Mann traten. "Die Situation für meinen Mandanten ist kritisch", sagt Siegfried Schäfer, Verteidiger von Onur K.

Für Vera J., die Mutter des Tatopfers, geht das Martyrium weiter. Die 63-Jährige steht vor dem Gerichtssaal und muss mit ansehen, wie die mehrfach vorbestraften Jugendlichen die Verhandlung als freie Männer verlassen. Daran wird sich bis zum Urteil auch nichts ändern. Nach dem OLG-Beschluss, die Angeklagten aus der Haft zu entlassen, seien der Staatsanwaltschaft die Hände gebunden, sagt ein Behördensprecher. "Falls sie nicht zur Verhandlung kommen würden, würden wir aber einen Haftbefehl zur Verfahrenssicherung beantragen." Das alles sei schlicht empörend, sagt Vera J. dem Abendblatt. Einige klärende Worte zum Fristversäumnis hätte sie sich von der Kammer gewünscht. "Doch da kam nichts!" Neben dieser Enttäuschung sei die erneute Verzögerung wie ein Schlag ins Gesicht. "Ich wünsche mir sehr, dass der Prozess schnell beendet wird. Und jetzt ist schon wieder unterbrochen worden." Ähnlich war es im März, als die erste Hauptverhandlung begann. Damals verlief der erste Prozesstag holprig und musste unterbrochen werden - es ging einmal mehr um Fristen: Das Gericht hatte nach Ansicht eines Verteidigers nicht fristgerecht mitgeteilt, wie die Jugendkammer besetzt ist.