Vor 70 Jahren kamen die Nylonstrümpfe auf den Markt - für 250 Dollar das Paar. Ihr Wegbereiter ahnte nicht, wie glücklich er Generationen von Frauen machen würde.

Männer prügeln sich oft aus verletztem Stolz, Frauen manchmal sogar um verzierte Strümpfe. Wie an diesem Mittwoch, dem 15. Mai 1940, dem offiziellen Verkaufsstart von Nylonstrümpfen in den USA. Als "N-Day", Nylon-Tag, ging er in die Geschichte ein.

Endlich war ein Weg gefunden worden, die heiß begehrte Ware in Masse zu produzieren. Schon frühmorgens bildeten sich Schlangen vor den Kaufhäusern. Die Frauen hatten ihre labberigen Baumwollstrümpfe satt, sie wollten Bein zeigen, jede sich fühlen wie ein Filmstar, wie es die Werbung versprach.

In den Warenhäusern entbrannte eine Strumpfschlacht, jede Frau durfte nur ein Paar kaufen. Der Preis: 250 Dollar, doppelt so viel wie ein Paar Seidenstrümpfe, ein Vermögen, dafür doppelt so robust wie diese, so das Versprechen.

Am ersten Tag wurden vier Millionen Strümpfe verkauft, im darauf folgenden Jahr 64 Millionen.

Es war ein Mann, der die Frauen glücklich machte, sein Name war Wallace Hume Carothers. Ein amerikanischer Chemiker, Harvard-Absolvent, 39 Jahre alt, mit freudlosem Blick, schmalen Lippen, leichten Segelohren, getrieben von dieser Vision: einen reißfesten Faden herzustellen. Er schaffte es.

Im Februar 1935 schuf Carothers, inzwischen Forschungsleiter beim amerikanischen Chemieriesen DuPont, letztlich aus Kohle, Wasser und Luft Polyhexamethylenadipinsäureamid. Eine seidig schimmernde, durchsichtige Masse, aus der sich ein Endlosfaden spinnen ließ: Nylon.

Carothers selbst brachte sich um Ruhm und Ehre. Zwei Jahre später schluckte er in einem Hotel in Philadelphia eine Zyankali-Tablette, er soll an Depressionen gelitten haben, schreibt sein Biograf.

Ob Carothers bewusst war, wie bedeutsam seine Erfindung sein würde?

Ein Tag im Mai 2010. "Gäbe es keine Strumpfhosen, könnte ich jetzt nicht im Kleid heiraten", sagt Susanne Schmutte. Die 37-Jährige, eine Frau mit raspelkurzen hellblonden Haaren, und ihr Verlobter Roger Minder stehen in der Strumpfabteilung im Erdgeschoss des Alsterhauses. Eine halbe Million Strumpfwaren-Artikel auf knapp 400 Quadratmetern Verkaufsfläche umgeben sie. Überdimensionale Leuchtreklamen vermitteln der Betrachterin: Strümpfe sind ein Lebensgefühl.

Susanne Schmutte und Roger Minder wollen an diesem Wochenende auf der Rickmer-Rickmers heiraten, das Wetter ist schlechter als erhofft, doch auf ihr Kleid will sie nicht verzichten. Dank Carothers muss sie es nicht.

Eine Verkäuferin zeigt Susanne Schmutte dunkelblaue Leggings von unterschiedlichen Herstellern. "Die sehen zu Peeptoes einfach besser aus", entscheidet Susanne Schmutte.

Vorsichtig zieht die Verkäuferin die Ware aus dem Briefpäckchen, breitet sie auf einem illuminierten Milchglas-Tresen aus. Susanne Schmutte prüft die Farbe, sie soll perfekt zu dem Blau ihres Seidenkleides passen. Auch ihr Verlobter schaut genau hin. "Amüsanterweise habe ich mehr Shoppinggeduld als sie", sagt der gebürtige Schweizer. Mit zwei Paar Leggings, eins als Reserve, gehen er und Susanne Schmutte zur Kasse.

Die Strumpfabteilung im Alsterhaus hat an einem durchschnittlichen Verkaufstag rund 300 Kunden. Wie Musikfans durch CD-Hüllen stöbern, tanzen die Finger der Kundinnen über die aufgereihten Päckchen auf der Suche nach dem perfekten Beinkleid. Im Schnitt werden 1000 Artikel pro Tag gekauft. Beliebt sind derzeit Muster und Animal-Prints, sagt die Verkäuferin.

Beine im Leoparden-Look, vor 70 Jahren unvorstellbar. Damals gab es Strümpfe in Schwarz und Weiß, dazwischen die ganze Klaviatur Brauntöne. Aus madigweißen Waden zauberten sie Sunnylegs, im Herbst trug man Nougat-, Inka- oder Muskatbraun. Die Strümpfe, die bis zur Oberschenkelmitte reichten, befestigten die Frauen mit Haltern am Hüftgürtel oder Korsett. Die Haut dazwischen? Dem Ehemann vorbehalten.

Echte Nylons erkannte man an ihrer Naht - noch gab es keine Rundstrickmaschinen - und an den Hochfersen. Bezeichnungen wie "Poin Heel", "Cuban Heel" oder "Havanna Heel" gaben dem Produkt etwas zusätzlich Verruchtes. Zur Herstellung wurde ein einzelner Endlosfaden verwendet.

In Deutschland gelang es erstmals dem Chemiker Paul Schlack im Januar 1938, Polyamid aus Caprolactam zu gewinnen, später erhielt der Stoff den Namen Perlon. Der Unterschied zu Nylon, vereinfacht gesagt: Nylon wurde aus Erdöl, Perlon aus Steinkohle hergestellt. 1953 erhielt Schlack, angestellt bei der IG Farben, zu der auch BASF, Bayer und Hoechst gehörten, den Verdienstorden der Bundesrepublik.

Die Jahre zwischen 1950 und 1965 bezeichnen viele auch heute noch als Perlonzeit. Die Kulturanthropologin Susanne Buck hat sie in ihrem Buch "Gewirkte Wunder, hauchzarte Träume - von Frauenbeinen und Perlonstrümpfen" beschrieben. "Perlonstrümpfe waren wie der VW-Käfer ein Symbol der Wirtschaftswunderzeit", weiß die 44-Jährige. Darüber hinaus prägten sie ein neues Gefühl von Weiblichkeit. "Strümpfe und Strumpfhalter wurden zu einem unentbehrlichen Requisit für die modebewusste, vornehme Dame", sagte Susanne Buck. Stars wie Romy Schneider und Hildegard Knef zierten die Werbeplakate der Hersteller.

Ähnlich wie Schmuck waren Strümpfe damals ein besonderer Luxus. Jede Frau hatte ein Strumpftäschchen aus Stoff mit mehreren Fächern, in die man die Strümpfe paarweise oder nach Farben sortiert einstecken konnte. Klarer Nagellack diente als Sofortmaßnahme gegen Laufmaschen, an jeder Straßenecke gab es Laufmaschen-Annahmestellen, so wie heute Nagelstudios.

In den Kriegsjahren verschwanden die Nylons plötzlich aus den Geschäften, hierzulande wie in Amerika. Tonnen wurden aufgestellt, die Frauen sollten ihre Strümpfe spenden. Der Grund: Nylon, stark und unverrottbar wie Stahl, dabei fein wie ein Spinnennetz, wurde zur Herstellung von Fallschirmen, Hochdruckschläuchen für Kampfflugzeuge, Borsten zur Reinigung von Waffen gebraucht. Nylon diente auch als Nahtmaterial für Wunden.

In dieser Zeit schmierten sich die Frauen Tinkturen oder Kaffeesatz auf die Beine, zogen mit Kohle oder Augenbrauenstiften einen Strich über ihre Waden. 1945 wurden in der amerikanischen Stadt Tulsa 60 junge Amerikanerinnen gefragt, was ihnen am meisten fehle. 20 sagten: Männer. 40 sagten: Nylons. Nach Kriegsende wurden im New Yorker Kaufhaus "Macy's" binnen sechs Stunden 50 000 Paar verkauft.

In Deutschland konnten erst fünf Jahre nach Kriegsende die ersten Perlonstrümpfe hergestellt werden. Um die für die Massenproduktion notwendigen genormten Größen zu bekommen, ließ sich die Firma ARWA einen besonderen Clou einfallen. Ab Oktober 1951 veranstaltete sie "Beinwettbewerbe". Offiziell suchte man die schönsten Beine Deutschlands, inoffiziell sollten die neuen Maße ermittelt werden. Während des Krieges waren die Waden der Frauen stärker, die Füße ausgeprägter geworden, vermutlich durch das lange Stehen in den Fabriken und das schlechte Schuhwerk.

Zu einer Perlon-Stadt wurde auch Wedel bei Hamburg durch die Ansiedlung der Feinstrumpfwirkerei Richard Wieschebrink. In Geesthacht ließ sich Alexander Kiedrzycki nieder. Um nahtlose Strümpfe herstellen zu können, hatte er bereits 1954 Rundstrickmaschinen angeschafft. Die unifarbenen Schläuche wurden auf Länge geschnitten, an Saum und Ferse vernäht.

Sind die Strumpfhosen heute anschmiegsam und weich, waren Nylon- und Perlonstrümpfe ein starres Gewebe. Erst im Laufe der Zeit wurden sie mit Lycra und Elasthan veredelt, dadurch dehnbarer. 1954 kosteten Feinstrümpfe zwischen sechs und 13 Mark, vier Jahre später gab es sie für 1,95 Mark im Supermarkt. Mit dem Aufkommen des Minirocks eroberten die "Strümpfe bis zur Taille" den Markt. 1966 wurden 17 Millionen Strumpfhosen verkauft, 1971 waren es 560 Millionen.

Für Antje Rauch sind Strumpfhosen ein Statement. Keine andere Frau in Hamburg weiß mehr über Strümpfe zu erzählen. 1977 hat sie in der Strumpfabteilung des Alsterhauses gelernt, heute ist die 47-Jährige mit dem blonden Pagenkopf und dem schwarzen Anzug stellvertretende Leiterin der Abteilung, gewechselt hat sie sie nie. "Ich habe mich nie gelangweilt, ständig gibt es neue Trends, täglich kommt neue Ware, wir dekorieren jeden Monat neu", sagt sie. Die Verkaufsfläche sei über die Jahre immer weiter gewachsen, früher lag sie gleich hinter dem Eingang am Jungfernstieg. Ebenfalls ein Statement.

"Strumpfhosen sind ein Accessoire, sie veredeln nicht nur die Beine, sondern ein ganzes Outfit", sagt Antje Rauch. Fast täglich kämen Frauen mit ihrer Garderobe und Schuhen, auf der Suche nach dem perfekten Strumpf. "Manche halten sich bis zu einer Stunde auf, wollen umfassend beraten werden", berichtet Antje Rauch. Eine ihrer Kolleginnen bedient gerade eine hanseatisch wirkende Frau im dunkelblauen Mantel, Mitte 50, wohlfrisiert. Die Dame bittet die Verkäuferin, mit ihr ans Tageslicht zu gehen, um die Farbnuancen vergleichen zu können.

Antje Rauch zieht ein Briefpäckchen aus dem Regal, eine der ersten laufmaschenfreien Strumpfhosen, 3-D-gestrickt. Die größten Innovationen liegen in den Herstellungstechniken, abgesehen von Farben, Mustern und dekorativen Elementen; inzwischen gibt es Leggings mit kleinen Schnallen.

Noch ist viel zu tun im Alsterhaus, aber mit Sommerbeginn bricht das Strumpfgeschäft wie jedes Jahr ein. "Dann verkaufen wir hauptsächlich zehenfreie und ultratransparente Ware, Make-up für die Beine", sagt Antje Rauch. Der perfekte Hautton findet sich, in dem man die Ware über die Innenseite des Handgelenkes zieht.

In der nächsten Herbst-/Wintersaison erwarten die Kundinnen viele Graublau- sowie pudrige Rosétöne aus dem Nude-Bereich. Blickdicht, versteht sich.

In der vergangenen Saison waren sogar wieder echte Nylons im Programm, mit Naht und Hochferse. Niemand prügelte sich darum, im Gegenteil, sie waren der Ladenhüter des Jahres.