Hoch dekorierte Offiziere, die hoch zu Ross Famoses vollbrachten. Vor 90 Jahren erlebte das Springderby in Klein Flottbek seine Premiere.

Hamburg. Es war ein sommerlicher Sonnabend wie aus dem Bilderbuch, und die Zaungäste in Klein Flottbek erschienen vornehm gekleidet - dem Anlass entsprechend. Schließlich stand an diesem 26. Juni 1920 das erste Deutsche Springderby auf dem Programm. Im wahrsten Sinne des Wortes: Kleinformatige Hefte, mehr Bücher als Kladden, verwiesen auf hoch dekorierte Offiziere und blaublütige Kerle, die hoch zu Ross Famoses vollbrachten. Damen spielten nur am Rande eine Rolle. Graf zu Schaesberg war dabei, Oberleutnant Olmmann, Rittmeister Graf von Hohenau, Freiherr von Buddenbrock-Pläswitz und der Kaufmann Eduard F. Pulvermann. Man küsste die Hand, parlierte gewählt und genoss das Glück, Zeuge eines historischen Moments zu sein.

Noch schwerer als der Sprung über die Hürden fiel die Diskussion im Vorfeld der Premiere aus. War zuvor jeder nach eigener Facon geritten und hatte es als Ehre angesehen, auf eigenem Gut zur Jagd zu bitten, waren kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges Vereinheitlichung und Schaffung von Strukturen angesagt. Das Heer als Bastion des Reitsports lag schließlich zerschlagen darnieder.

Als geradezu symbolischer Akt wurde innerhalb der reiterlichen Gilde die Gründung des Norddeutschen Vereins zur Zucht und Prüfung des deutschen Halbblutes am 29. Januar 1920 gewertet. Der Hamburg-Wandsbeker Schleppjagd-Verein, der Hamburger Polo-Club sowie der Bahrenfelder Reiter-Verein waren fortan eins und umfassten insgesamt 300 Mitglieder. Den finalen Impuls brachte ein illustrer Kreis zumeist wohl geborener Herren am Abend des 6. Mai 1920 in einem Salon des Hotels Atlantic an der Außenalster. Die Gentlemen waren sich einig: Ein Wettstreit auf höchstem Niveau musste her, eine Veranstaltung von nationalem Gewicht und möglichst internationalem Widerhall. Wenn schon die Nation wegen der Niederlage nach vier Jahren Krieg am Boden lag, dann wollte man wenigstens sportlich auf Augenhöhe sein.

Nachdem ursprünglich die Bahrenfelder Koppeln als Geburtsort auserkoren wurden, entschied man sich letztlich doch für die dörfliche Idylle Flottbeks. Auf dem Areal abseits der Bahnlinie Altona-Blankenese sollte das erste Derby ausgetragen werden. Übrigens eher als Rahmenprogramm des längst etablierten Deutschen Galoppderbys auf dem Horner Moor, das sogar der Kaiser regelmäßig besucht hatte. Zwischen beiden Sparten bestanden engste Beziehungen - man zog quasi an einem Zügel. Sonnabends zu den Springreitpferden in den Westen der Hansestadt und sonntags zum Turf in den Osten: Dieses Sommervergnügen sollte fortan zum guten Ton gehören. Sportlich wie gesellschaftlich.

Es war also durchaus ein feierlicher Moment an diesem 26. Juni 1920 in Klein Flottbek. Kaum einer der Taufpaten jedoch wird im Traum daran gedacht haben, wie sehr das Kalkül der Gründerväter vor genau neun Jahrzehnten aufgehen sollte. An diesem Sonntag nun steht das 81. Springderby auf dem Programm. Zehnmal fiel das Großereignis aus: Zwischen 1940 und 1948 wegen der Wirren des Zweiten Weltkrieges. Und, rückblickend überraschend, auch 1972. Offiziell wegen der Olympischen Sommerspiele in München, doch wissen es Eingeweihte besser: Der seinerzeit auch für die Ausrichtung verantwortliche Norddeutsche und Flottbeker Reiterverein (NFR), damals wie heute Hausherr in Klein Flottbek, war in der Führungsriege derart zerstritten, dass nichts mehr ging. Im Folgejahr hatte man sich wieder halbwegs zusammengerauft.

Wie immer ist die Tribüne auch im 90. Derbyjahr seit Wochen ausverkauft. Wie immer ist das Fernsehen live dabei. Wie immer herrscht große Begeisterung unter den alten Eichen des Derbyparks. Das ist Tradition auf die fröhliche Art, die Hamburgs Nimbus als Hauptstadt des Pferdesports nährt. Und "alle Welt" spricht von einem von Anfang an unveränderten Parcours, der die Reitersleut' von jeher auf die Probe stellt.

Klingt gut, stimmt aber nicht ganz. Erstens weil die Hindernisse durchaus verändert wurden. Und zweitens, noch wichtiger, weil die ersten acht Springderbys auf dem Poloplatz an der Jenischstraße ausgetragen wurden. Das heute vertraute Gelände an der Jürgensallee bietet den Prüfungen erst seit 1928 eine stilvolle Heimat.

In Wahrheit also ging es anders los. Dokumente und Programmausschnitte im Keller des Reitervereins am Hemmingstedter Weg und im Privatarchiv des NFR-Vorsitzenden Klaus Meyer erinnern an die tatsächlich fast vergessene Premiere. Verblichene und leider nur aufwendig zu reproduzierende Fotos legen Zeugnis ab vom Start. Zum Beispiel von einer Frau von Watzdorf, die im Einspänner zur Eröffnungsprüfung vorfuhr. Bestens behütet. Vom Rittmeister von Düring, der, in schmucker Uniform, zum Sprung über einen Birkenoxer ansetzt. Oder vom in der Erinnerung vieler Hamburger nach wie vor lebendigen Eduard F. Pulvermann, der, mit Zylinder und wehendem Frackschoß, seinen Tristan über ein Naturhindernis dirigiert.

Auch der Unternehmer, dessen Name unsterblich mit dem Parcours verbunden ist, animiert zur Legendenbildung. Details eines fidelen norddeutschen Lebens mit fürchterlichem Ende im KZ Neuengamme und einem Gefängnislazarett hat der Hamburger Dr. Joachim Winkelmann in seinem Buch "Ein Hamburger Kaufmann und Reiter" in akribischer Arbeit zusammengetragen.

Danach liegen die Wurzeln des Derbys ursprünglich in Dockenhuden (Blankenese). Im April 1914 lud Pulvermann befreundete Reiter zu einem Wettbewerb in privatem Rahmen auf sein Grundstück an der Elbchaussee ein. Bevor er jedoch seine Pläne für einen der natürlichen, norddeutschen Landschaft nachempfundenen Turnierplatz verwirklichen konnte, musste er mit seinen kurz zuvor erworbenen Pferden Coraggio und Tristan im Dragonerregiment 17 in den Ersten Weltkrieg ziehen.

Unversehrt heimgekehrt, konnte er den als Austragungsort vorgesehenen Poloplatz weitgehend nach seinen Idealen gestalten. Allerdings fehlte 1920 noch das Geld für großartige Hürden und Wälle. Seinerzeit glich der Parcours einer schweren Prüfung für Jagdpferde mit einer Länge von 2100 Metern, 16 Hindernissen und einer zu absolvierenden Mindestzeit von sage und hiermit schreibe sieben Minuten.

Der Anfang indes war gemacht. Und zwar mit einem Rekord für die Ewigkeit. Denn der Sieger im ersten Deutschen Springderby, ausgestattet mit 13 500 Mark, hieß Paul Heyl im Sattel des irischen Hengstes Cyrano. Auch der Zweite war Paul Heyl auf der Fuchsstute Hexe. Um den Triumph zu komplettieren, dirigierte er den Schimmel Grey Lad auf Rang drei - allerdings gemeinsam mit zwei Rivalen.

Im Jahr darauf hatte sich das Derby bereits einen kleinen Namen in der Hamburger Gesellschaft gemacht. Eduard F. Pulvermann und seine Mitstreiter hatten mehr Zeit und Barmittel, den Parcours nach ihren Vorstellungen aufzupeppen. Dazu gehörte ein Hindernis, das er drei Jahre zuvor bei einem Turnier in Travemünde entworfen hatte. Unter dem Namen "Pulvermanns Grab" ist es heute noch weltberühmt - und in der Fachwelt gefürchtet. Diese legendäre Hürde mit der verflixten Nummer 14 besteht aus einem Rick vor einem Graben, einem Rick in diesem Graben und einem dritten Rick dahinter. Zwar wurde das mittlere Rick später zwecks Entschärfung des Hindernisses entfernt, doch sind die Probleme für Ross und Reiter geblieben. Mancher wähnt den Erfinder beerdigt darunter, doch ist die Realität weniger dramatisch. Als Pulvermann, der das Derby übrigens nie gewinnen konnte, mit seinem Vierbeiner in den Graben fiel, soll ein Freund am Rande angeblich geschrien haben: "Das ist Pulvermanns Grab!"

Damals wie heute begräbt die Nummer 14 die Sieghoffnungen so manchen Weltklassereiters. Da ist noch der Große Wall mit der Bretterplanke dahinter. Da ist der Holsteiner Wegesprung. Und da sind die Eisenbahnschranken - alles Hürden, die Eduard F. Pulvermann vor 89 Jahren erfand.

1928 reichte der Poloplatz nicht mehr aus. Immer mehr Hamburger hatten den Reiz des Derbys erkannt, erfreuten sich der sportlichen Note und genossen das gesellschaftliche Umfeld. Auch daran hat sich nichts geändert. Folglich zog man um und erbaute auf der anderen Seite der Bahnlinie, im Areal Baron-Voght-Straße/Jürgensallee, einen fast deckungsgleichen Parcours. Das Derby machte weiter Furore.

Über die folgende Ära weiß Flottbeks Reitervereins-Chef Klaus Meyer, 73 Jahre alt und selbst dreimal Derbystarter, auch auf Basis der Archivschätze im Zeitraffer zu berichten. Von unseligen Nazizeiten mit SS-Reitern in schwarzer Uniform und mit Hakenkreuz auf der Satteldecke, die bei der Siegerehrung eifrig den Hitlergruß entboten. Von der Zwangspause zwischen 1940 und 1948 und vom hoffnungsfrohen Wiederbeginn 1949. "Spring-Derby in altem Glanz", titelte das noch junge Hamburger Abendblatt in seiner Ausgabe vom 1. Juni 1949.

Man war wieder wer.