In der visuellen Flut, der wir Tag für Tag ausgesetzt sind, gibt es nur wenige Bilder, die uns tief berühren und die wir in Erinnerung behalten. Aber einige Fotografien sind von solcher Kraft, dass wir sie ein Leben lang nicht vergessen. Solche Bilder können im besten Fall zu Sinn-Bildern werden, die ein Ereignis nicht nur dokumentieren, sondern symbolisieren. Ein vielschichtiges Geschehen wird zu einem einzigen Motiv verdichtet, das ins kollektive Gedächtnis eingeht. Sven Simons Fotografie, die den knienden Willy Brandt 1970 vor dem Mahnmal im Warschauer Getto zeigt, ist ein solches Jahrhundert-Bild.

Damit Bilder diese Kraft entfalten können, muss der Betrachter die Situation, in der sie entstanden sind, ermessen. Wer nichts vom Schicksal der polnischen Juden weiß, dem teilt sich auch Sven Simons großartiger Fotomoment nicht mit. Ähnlich ist es mit dem Bild von Pietro Masturzo, das die Jury der World Press Photo Foundation zum Pressefoto dieses Jahres gekürt hat. Es spricht uns nur deshalb an, weil wir wissen, dass es eine mutige Protestaktion in Teheran zeigt.

Sieht man also tatsächlich nur, was man weiß? Die Gewinnerfotos des Word-Press-Photo-Wettbewerbs bestätigen diese These: Bilder können ohne Worte auskommen, und manchmal berühren sie uns auch, wenn wir ihren Inhalt nicht kennen. Aber um Sinn-Bilder oder gar Jahrhundert-Bilder zu werden, erfordern sie Betrachter, die informiert sind und ihre ganze Wahrheit zu deuten wissen.