Im Osten der Republik konstruiert der Hamburger Bootsbaumeister die größten Segelschiffe der Welt - eine Technik, die wieder Zukunft hat.

Hamburg. Man würde jetzt ein paar große Windjammer erwarten. Hohe Masten, die über den Häusern hier aufragen. An der holprigen Zufahrtsstraße zum Betrieb von Detlev Löll überrascht aber zunächst auf einem abgesperrten Nachbargrundstück eine riesige, haushohe Rakete. Daneben parkt ein ausrangierter Militärjet. Eine russische MIG 27, die da im hohen Gras neben der Straße verwittert. Von großen Segelschiffen ist nichts zu sehen, nur ein paar Fischkutter und zwei verlassene Fähren haben im Hafen festgemacht, der an seinen Betriebshof grenzt. "Unsere eigentliche Werft steckt eben hier drin" sagt Löll. Der drahtige 50-Jährige klopft dabei auf einen Computerbildschirm in seinem Büro, zwinkert freundlich hinter seiner randlosen Brille und führt dann in die benachbarte Werkstatt.

Immerhin: Glänzend polierte Mahagoni-Boote stehen dort, das Modell eines Großseglers in einer Vitrine; Segeltücher, Holzstreben baumeln von der Decke und lassen dann doch den Eindruck von Segelschiffbau aufkommen. Durch die staubigen Fensterscheiben draußen in einem Hinterhof sieht man wieder die MIG. Sie gehört wie die alte V2-Rakete zum Inventar des Technischen Informationszentrums Peenemünde - dem Nachbarn von Löll.

Ganz am Ende der Ostseeinsel Usedom hat der gebürtige Hamburger sein Konstruktionsbüro für Großsegler aufgebaut. Direkt neben dem mächtigen Ziegelbau eines ehemaligen Kraftwerks, das im Zweiten Weltkrieg die Energie für den Bau von Hitlers Wunderwaffen lieferte und jetzt ein Museum beherbergt, das die Geschichte von Düsenantrieb und Raketentechnik zeigt. Eine Geschichte, die oft sehr militärisch war. Friedlicher sind heute die Entwicklungen von Löll: Er entwirft und konstruiert kleine und vor allem auch die ganz großen Segelschiffe. Als Kreuzfahrtschiffe erleben solche neuen Windjammer heute eine nie geahnte Renaissance. "Viele Passagiere mögen nicht mehr die schwimmenden Hotels, wollen lieber die Romantik des Segelns", vermutet Löll, dessen Büro mit diesem Schwerpunkt auf Großsegler wohl einzigartig in Deutschland ist.

Es fällt allerdings zunächst schwer, hier an Sonnenuntergänge unter Segeln zu denken - obwohl die Ostsee so nah ist. Auf Peenemünde ließen die Nazis vor 70 Jahren die todbringenden V1- und V2-Raketen entwickeln und testen. Die Abschussrampen und Produktionsanlagen wurden nach dem Krieg gesprengt. Auf der schmalen Straße von Wolgast bis Peenemünde begleiten einen daher immer noch kilometerlang Warnschilder: "Munitionsbelastetes Gebiet, Lebensgefahr!" Am Ende wird die Straße zum Kopfsteinpflaster, das am Rand in Schilf und Sumpf zu versinken scheint. Hier an der Peene-Mündung hatte später auch die DDR-Marine einen Stützpunkt. Jetzt bröselt Putz von den Mannschaftsunterkünften, durch zerbrochene Fenster pfeift der Wind. In einem alten Marineheizwerk hat Löll Büro und Werkstatt eingerichtet, im obersten Stockwerk wohnt er mit seiner Frau in einer großzügigen Loftwohnung mit Ostseeblick

Viel Platz und viel Ruhe direkt am Wasser haben beide hier. Gepaart mit der morbiden Atmosphäre der alten Militäranlagen. Vielleicht schafft das aber auch die nötige Voraussetzung, um über Vergangenheit und Zukunft zu grübeln. Denn es geht um beides, wenn er solche Segelschiffe entwirft. Wenn seine Mitarbeiter dafür Masten und Streben konstruieren, Stabilitäten, Statik und Segelflächen am Computer berechnen und so schließlich aus allem die Takelage eines Schiffes entwickeln. Quasi alles, was über dem Rumpf steht und für die Besegelung notwendig ist, gehört dazu. Löll ist, wenn man so will, Deutschlands bekanntester Architekt neuer Windjammer-Technik.

In die Bausprache übersetzt könnte man auch sagen, er entwirft nicht nur Einfamilienhäuser und Büros, sondern wieder Schlösser und Burgen. Kleinere Boote baut sein Betrieb selbst. Seine Frau, ebenfalls Bootsbaumeisterin, konstruiert hölzerne Kajaks und Kanus. Größere Arbeiten vergeben die Lölls an Werften. Weltweit. Die Nähe der Großstadt braucht er dazu nicht mehr. "Internet, Computer, Handy - das reicht", sagt Löll. Klar, mal eben ins Kino geht hier nicht: "Wir paddeln aber lieber auf der Ostsee", sagt Löll.

Für bekannte Traditionsschiffe wie die "Fridtjof Nansen" entwickelte er Takelage und Konstruktion. Die Deutsche Marine zählt mit der "Gorch Fock" zu seinen Kunden. Für das Projekt einer Hamburger Unternehmergruppe entwarf er die Takelage für einen Fünfmaster. Mit mehr als 100 Passagieren soll das 155 Meter lange Schiff einmal über das Mittelmeer segeln. Es würde das größte Segelschiff dieser schönen Erde werden, sagt Löll und zwinkert wieder. Projektname ist Tallship Hamburg. Noch ist das Schiff aber nicht durchfinanziert. Weiter ist indes die "Sea Cloud Hussar" für den Hamburger Reeder Hermann Ebel. Für ihn hatte Löll auch schon Masten und Segelgarderobe des segelnden Kreuzfahrtschiffs "Sea Cloud II" geplant. Die "Sea Cloud Hussar" wird derzeit im spanischen Vigo gebaut, für die Takelage hat Löll dort auch die Bauaufsicht übernommen. Es soll der größte Dreimaster werden, der bisher jemals für die Passagierfahrt gebaut wurde. Voraussichtlich im Frühjahr nächsten Jahres wird er auf Jungfernfahrt gehen. Vielfach orientiert sich die Arbeit Lölls bei solchen Projekten an historischen Vorbildern der alten Frachtsegler. Auf dem Schreibtisch seines Mitarbeiters Hans Hampel liegen dazu verblichene Schwarz-Weiß-Fotos.

Bärtige Männer sind darauf zu sehen, ein riesiges Steuerrad und ein Teil eines Segels. Am Computer zeichnet der Ingenieur ein dreidimensionales Metallgerät, das die schweren Segelbäume beim Herumschlagen halten soll. Immer wieder blickt er auf die alte Aufnahme. "Für dieses Teil gibt es keine Konstruktionspläne mehr, wir bauen das nach", sagt er. Das neue Metallteil soll einmal das Segeln auf einer großen, gut 58 Meter langen Luxusyacht erleichtern, die sich ein offensichtlich nicht ganz unvermögender Kunde von Löll bauen lässt. Das fast mannshohe Windkanal-Modell des gaffelgetakelten Schiffs steht neben etlichen anderen Windjammer-Modellen auf dem Fußboden im Büro. "Bitte nicht fotografieren", sagt Löll. Seine Auftraggeber verlangen eben Diskretion. Manchmal sind sie recht prominent. Am Peenemünder Restaurant "Alte Wache" wirbt ein Schild damit, dass selbst der schwedische König hier schon gespeist habe. Bei Lübzer Bier und Sauerbraten besprach Löll dort mit Carl XVI. Gustaf Details der Restaurierung einer Holzyacht.

Es war ein langer und abenteuerlicher Weg, der ihn zum Windjammer-Spezialisten und zum Sauerbraten-Dinner mit dem schwedischen König führte. In Hamburg-St. Georg wuchs er auf, auf der Klosterschule am Berliner Tor machte er sein Abitur. "Ich wollte dann Schiffbauingenieur werden." Um die richtige Grundlage dafür zu bekommen, lernte er zunächst bei Blohm + Voss Stahlschiffbauer. "Das Faible fürs Handwerk kam vom Opa, der war Malermeister", sagt Löll. Doch im Schiffbau war die Lage nach der Lehre recht mau geworden. Löll sattelte um, wurde Schlosser im Thalia-Theater. Hier lernte er die Improvisation, die Umsetzung eigener Ideen. "Wir mussten so Sachen bauen wie einen Kamin, der bei jeder Vorstellung scheppernd zusammenfällt - und am nächsten Abend wieder in Aktion sein kann."

Nach der Thalia-Station wurde Löll Dozent an der Hamburger Uni, wo er mit Sportstudenten Holzboote baute. Später machte er in Travemünde noch seinen Bootsbaumeister, geriet in dieser Zeit zur Segelei mit Traditionsschiffen und wurde ehrenamtlicher Maschinist auf der "Thor Heyerdahl", wo Jugendliche die klassische Seemannschaft lernen. Mit diesem Wissen ging Löll nach Südspanien, Frankreich und Costa Rica, baute dort Fischkutter und Segelyachten.

1989 kam schließlich die Wende und eine Idee. Weil in der Ex-DDR die Abwicklung vieler Betriebe durch "Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen", sogenannte ABM, abgefedert wurden, versuchte Löll mit einem Verein durch ABM einen alten Rumpf selbst zu einem großen Traditionssegler für pädagogische Jugendreisen auszubauen. Bei der Peene-Werft in Wolgast fand er Gehör. 4000 Leute arbeiteten damals dort, heute sind es knapp 250. Aus dem Projekt wurden verschiedene Unternehmen und schließlich das weltweit agierende Konstruktionsbüro "Detlev Löll und Partner."

Mit der Wiederentdeckung der Windjammer-Technik für Kreuzfahrtschiffe sind die Auftragsbücher voll. In der Kreuzfahrerei gibt es aber Grenzen. Zu viel Schieflage durch das Segeln bei jedem Wetter vertragen die Gäste nicht, zu viel Personalkosten zum Segelbedienen die Reedereien nicht. Für das Tallship Hamburg orientierte sich Löll daher an einer Segeltechnik, die der Hamburger Ingenieur Wilhelm Prölls in der 1960er-Jahren entwickelt hatte: Das Dyna-Rigg. Rahsegel werden dabei automatisch in einen drehbaren Mast gefahren und je nach Wind gerefft oder ausgefahren. Segeln auf Knopfdruck ist so möglich.

Gibt es also bald auch eine Renaissance für Frachtsegler? Damals sollte das Dyna-Rigg für einen 160 Meter langen Frachter eingesetzt werden. Das Prinzip galt zwar als wirtschaftlich, es konnte sich aber nicht durchsetzen - auch weil Öl als Treibstoff noch unerschöpflich und dauerhaft billig erschien. Inzwischen ist das Ende des Ölzeitalters in Sicht - und die ersten modernen Segelkonstruktionen kreuzen über die Meere: Der niederländische Konstrukteur Gerard Dijkstra griff für die Megayacht "Maltese Falcon" 2005 bereits wieder auf das Dyna-Rigg-Prinzip zurück. Und der deutsche Windenergieanlagen-Hersteller Enercon setzt auf ein Windkraftprinzip mit drehenden Rotoren, die den Vortrieb bringen. In der Nordsee erprobt Enercon zurzeit sein neues Transportschiff "E-Ship 1" mit solchen Rotoren.

Auch Löll hat bereits Aufträge einer Hamburger Reederei, um Studien für Frachtsegler zu entwickeln. Von wem, soll noch geheim bleiben. Das Schiff soll etwa 222 Meter lang werden, ein Massengutfrachter für die Überseefahrt. Entworfen hat Löll dazu sechs Dyna-Rigg-Masten, die hydraulisch gesteuert werden "Nur zwei Mann zusätzlich sind für die Bedienung notwendig", sagt er. Bis 90 Prozent Treibstoff könnten bei Atlantik-Überquerungen gespart werden. Bei Spritkosten von rund 7000 Euro pro Tag für ein solches Schiff eigentlich eine verlockende Perspektive. Allerdings würde ein solcher segelnder Frachter gerade mal die halbe Durchschnittsgeschwindigkeit heutiger Motorschiffe erreichen. Und Zeit ist Geld, vor allem für Reeder. Noch rechnet sich ein Windantrieb für Reeder daher nicht, sagt Löll und schaltet seinen Rechner aus, auf dem kurz die Konstruktionszeichnungen eines solchen Riggs zu sehen waren. Draußen schreit eine Möwe, dann ist wieder Ruhe. Detlev Löll öffnet die Tür, um wieder zur Werkstatt zu gehen. Ein kalter Wind weht von der Ostsee herüber und verwirbelt sein mittlerweile ziemlich graues Haar. Der Treibstoff für seine Schiffe ist eben immer vorhanden und kostet nix. Die Zeit der Windjammer, so glaubt er, ist daher nicht vorbei. Sie kommt gerade erst wieder.