Prof. Waltraud Kokot, 57, arbeitet am Institut für Ethnologie der Universität Hamburg.

1. Hamburger Abendblatt:

Ist es typisch, dass die Familie des 15-jährigen Hamburger Mädchens, das in Berlin zwangsverheiratet worden sein soll, aus einer Sinti-und-Roma-Kultur des ehemaligen Jugoslawien stammt?

Professor Waltraud Kokot:

Vorab: Ich habe große Probleme mit dem Begriff "Zwangsheirat". In der aktuellen hitzigen Diskussion wird der Begriff Zwangsheirat zu gerne und zu schnell eingebracht. In vielen Kulturen der Welt werden Ehen zwar von den beteiligten Familien arrangiert, aber das bedeutet nicht, dass die Kinder immer zur Ehe gezwungen werden.

2. Sind arrangierte Ehen denn ein Bestandteil der Sinti-und-Roma-Kultur?

Die "eine" Sinti- oder Roma-Kultur gibt es gar nicht. Die Bezeichnung Roma beschreibt allein viele einzelne unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Kulturen und Traditionen. In vielen dieser Gruppen sind arrangierte Ehen Teil einer langen Tradition.

3. Warum dürfen diese jungen Menschen nicht selbstständig ihre Partner aussuchen?

Nicht verheiratet zu sein, keine eigene Familie zu haben, gilt in vielen Kulturen als schreckliches Schicksal, gerade auch bei Sinti und Roma. Den Eltern kommt dort eine andere Rolle zu als bei uns. Es gehört zu ihrer Fürsorgepflicht, frühzeitig für die Kinder einen Mann oder eine Frau zu finden. Meist arrangieren Eltern und Familien die Ehe aber in Rücksprache mit den Heiratskandidaten. Bevor das Paar heiratet, verhandeln die Familien über die Bedingungen, denn die Heirat betrifft dort nicht nur das Paar, sondern Familien als Ganzes.

4. Aus deutscher Sicht sind die einander versprochenen Menschen sehr jung, insbesondere die Mädchen. Sehen das die Traditionen so vor?

In vielen Kulturen, auch bei Sinti und Roma, ist das übliche Heiratsalter sehr viel niedriger als hierzulande. Bei uns gelten 15-Jährige noch als Kinder, dort gelten sie als erwachsen und damit als heiratsfähig. Wird ein 15-jähriges Mädchen verheiratet, denkt man bei uns sofort an Kindesmissbrauch. Hier stoßen unterschiedliche Wertvorstellungen massiv aufeinander und können sogar mit unseren Gesetzen kollidieren. Wir sollten im Zusammenhang mit arrangierten Ehen aber auch nicht vergessen, dass es in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht viel anders ablief.

5. Also läuft das nicht viel anders ab als arrangierte Ehen früher in deutschen Familien?

Aber natürlich. Da suchten die Familien die Ehepartner für ihre Kinder aus: Adel wurde mit Adel verheiratet, Bauernsöhne mit Bauerntöchtern. Geld heiratete Geld. Die Partner mussten in die Familie passen, so wie es in vielen anderen Kulturen auch arrangiert wird.