Dr. Emil Branik, 54, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Asklepios-Klinik in Harburg.
1. Hamburger Abendblatt:
Am Wochenende gab es wieder Mai-Krawalle in Berlin und Hamburg mit schweren Ausschreitungen. Was geht in den jugendlichen Randalierern vor? Neigt der Mensch von Natur aus zu Gewalt?
Dr. Emil Branik:
Das Potenzial zur Gewalt steckt in jedem Menschen. Aber meist kommt es nie zum Ausbruch. Dafür sorgen Kultur und normalerweise die Erziehung. So bauen wir eine Hemmschwelle gegen Gewalt auf.
2. Einige werfen Steine, plündern Geschäfte, verletzen Polizisten. Wo bleibt deren Hemmschwelle?
Bei einigen ist sie deutlich herabgesetzt. Wichtigste Ursachen sind: schlechte Beziehungserfahrungen, psychische und physische Traumatisierungen, soziale Randständigkeit, Ausgrenzung. Aus Kränkungen kann sich Enttäuschungswut aufstauen, die die Hemmschwelle gegen Gewalt zu Fall bringt.
3. Kann die Gewaltbereitschaft innerhalb einer Gruppe ansteckend wirken?
Es gilt, zwei Formen von sogenannten dissozialen Handlungsweisen zu unterscheiden, also Verhaltensweisen, die gegen die Gesellschaft gerichtet sind: Die eine wird aus eigenständigem Antrieb in Gang gebracht, die andere innerhalb einer Gruppe mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Wer dabei mitmacht, will von Gleichgesinnten anerkannt werden und in der Gruppe dazugehören. Die Gruppe verführt sie.
4. Welche Umstände führen denn dazu, dass man besonders leicht verführt werden kann?
Die Anfälligkeit, sich verführen zu lassen, ist häufig in der individuellen Lebensgeschichte begründet. Oft sind das sehr unsichere Menschen, die den warmen Schoß einer Gruppe suchen - eventuell als Ersatz für fehlende Sicherheit in der eigenen Herkunftsfamilie.
5. Sind alle Gewalttäter psychisch krank, und wie macht man aus gewaltbereiten Jugendlichen friedfertige Menschen?
Der Anteil derer, die nur deshalb gewalttätig sind, weil sie unter krankhaften Persönlichkeitsstörungen leiden, ist gering. Die Ursachen der Gewaltbereitschaft sind meist komplex. Es ist wichtig, Jugendliche, die zur Gewalt neigen, in ihr Umfeld einzugliedern. Je mehr sie am Rand der Gesellschaft leben, desto eher sind sie bereit zuzuschlagen, weil sie so ihr Gefühl der Benachteiligung kompensieren. Bei kriminellen Handlungen ist es unabdingbar, Grenzen zu setzen. Nur Verständnis hilft nicht weiter. Die erste Antwort muss eine Erziehungsmaßnahme und ggf. eine Strafe sein, zeitnah, nicht erst nach einem Jahr. Wenn psychische Störungen eine Rolle spielen, ist eine Therapie nur erfolgreich, wenn die Betroffenen ihr Problem erkennen, Veränderung wünschen und sie sozial eingegliedert werden.