- Leonie Wilken und Vater Ulrich aus der Schanze betreiben die Paartherapie-App Myndpaar
- Welche Vorteile die App gegenüber der klassischen Psychotherapie hat
- Myndpaar: Leonie und Ulrich Wilken wollen in die USA expandieren
Leonie Wilken (34) und ihr Vater Ulrich (67) wirken stolz, als sie das Abendblatt im Schanzenviertel in ihrem noch etwas spärlich eingerichteten, aber schön gelegenen Büro in einem Hinterhof am Neuen Pferdemarkt zum Interview empfangen. Ein vollgeschriebenes Whiteboard lehnt provisorisch an der Wand, viele bunte Zettel mit Notizen kleben an der weißen Wand, dazu ein paar Grünpflanzen. Start-up-Charakter pur.
Das passt zur Paarberatungs-App Myndpaar, die es seit zwei Jahren gibt. „Wir werden unser Jubiläum mit dem richtigen Einzug in dieses Büro feiern. Es ist schon verrückt, was in den vergangenen zwei Jahren passiert ist. Alles ist irgendwie etwas surreal“, sagt Leonie Wilken.
Paartherapie per App: Start-up Myndpaar setzt preisgünstiges Hilfsangebot für alle
Real ist hingegen der erhöhte Bedarf an Hilfe im Bereich mentaler Gesundheit. Statistisch gesehen ist jeder Vierte in Deutschland psychisch krank. Eine Studie der amerikanischen Harvard-Universität ergab außerdem, dass sich die Lebenserwartung bei Personen um bis zu 15 Jahre verlängert, die stabile und befriedigende Beziehungen wie Freundschaften pflegen.
„Die jüngeren Menschen sehnen sich wieder mehr nach stabilen Beziehungen. Die Welt ist so instabil geworden, da möchte man einen sicheren Hafen haben. Dieser Trend wurde mit der Corona-Pandemie noch mal bestätigt. Menschen sind wieder bereit, um die Liebe zu kämpfen, statt sich bei Tinder nach der nächstbesseren Option umzuschauen“, erklärt Ulrich Wilken.
Problem: Von Krankenkasse subventionierte Therapieplätze sind rar
Das Problem: Therapieplätze, die von den Krankenkassen subventioniert werden, sind rar. Oft müssen Patienten monatelang warten. Zahlt man eine Psychotherapie aus eigener Tasche, verschlingt es Tausende Euro. „Das wird sich in naher Zukunft auch nicht ändern. Das macht mich fuchsig. Ich möchte eine Hilfe anbieten, die sich auch Menschen mit wenig Geld leisten können. Das treibt mich jeden Tag an“, sagt Ulrich Wilken – der seit mehr als 40 Jahren als Psychotherapeut arbeitet.
Die Idee, seine Erfahrung in die digitale Welt zu transportieren, begleitet den Hamburger schon lange. Die Digitalisierung nimmt auch im Bereich Mental Health zunehmend Fahrt auf. Tochter Leonie war letztlich die treibende Kraft, die Vision zu einem ehrgeizigen Projekt zu wandeln.
„Am Anfang habe ich mich erst gar nicht so richtig getraut. Es ist komplettes Neuland, das wir betreten haben. Natürlich habe ich mich gefragt, ob es Menschen gibt, die Myndpaar nutzen wollen. Therapie hat viel mit Vertrauen zwischen Patient und Therapeut zu tun. Das sehe ich auch noch immer so. Ich kann Menschen verstehen, die anzweifeln, dass man dieses Vertrauen auch digital simulieren kann“, erklärt Ulrich Wilken.
Digitale Paartherapie basiert auf zehn Modulen, die im Alltag umgesetzt werden können
Die Myndpaar-App basiert auf zehn Modulen. Zunächst will die Software wissen, wo der Fokus der Therapie liegen soll „Beziehung stärken“, „Kommunikation verbessern“, „Wieder Nähe finden“ oder „Klarheit schaffen“ schlägt die App vor. Anschließend werden dem Klienten Fragen gestellt, in denen das Problem spezifiziert wird. So würde Ulrich Wilken auch in seinen analogen Therapiesitzungen vorgehen.
Es folgen Hilfestellungen zum Brechen von Verhaltensmustern und praktische Übungen, die der Nutzer an seinem Smartphone abarbeiten muss. Ein Modul dauert rund eine Woche. Die Antworten auf die jeweiligen Fragen beantwortet jedoch kein Therapeut, sondern ein Algorithmus, der sich Informationen aus rund einer Million von Ulrich Wilken zur Verfügung gestellten Daten zusammensucht.
„Es entsteht ein Dialog wie in einer Therapie. Nur sitzt einem eben kein Therapeut gegenüber. Zwischendrin werden auch immer wieder Audio-Sequenzen von mir eingespielt, am Ende eines jeden Moduls gibt es ein von mir eingesprochenes Resumé. Das schafft Vertrauen“, sagt Ulrich Wilken.
Start-up aus der Schanze: Psychotherapie ist immer noch mit Stigmata verbunden
Unmittelbar nach Launch der App gab es auch das Angebot, die digitale Therapie in Form von Videocalls zu machen. „Genau zwei Menschen wollten das nutzen. Unsere Erfahrung ist, dass die Nutzerinnen und Nutzer genau diese anonyme Kommunikationsform schätzen, sie öffnen sich emotional schneller und mehr als in so mancher analogen Sitzung“, erklärt der Hamburger Psychotherapeut.
„70 Prozent unserer Nutzerinnen und Nutzer hatten vorher noch nie Berührungspunkte mit therapeutischer Behandlung. Sich professionelle Hilfe zu suchen, ist gerade hier in Deutschland noch mit Stigmata verbunden. Dem wollen wir mit unserem Angebot entgegenwirken. Die Anzahl der Menschen, denen es mental nicht gut geht, wächst stetig. Allein mit menschlicher Kraft ist es unmöglich, allen zu helfen. Das mit Technologie zu ermöglichen, mit der Basis der jahrzehntelangen Erfahrung meines Vaters, ist extrem spannend“, sagt Leonie Wilken, die betont, dass das Thema Datensicherheit großgeschrieben wird. Die Server sind in Deutschland beheimatet. Zudem arbeite man mit einem Datenschutz-Anwalt zusammen.
Start-up Myndpaar ist ein ungewöhnliches Projekt aus Hamburg
93 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer – so erklärt es die 34-Jährige – stellen bereits nach sieben Wochen eine positive Veränderung bei sich oder in der Beziehung fest. „Die Quote ist höher als bei einer klassischen Therapiesitzung. Viele meiner Kollegen hören das nicht gerne, weil sie glauben, dass es ohne eine persönliche therapeutische Betreuung nicht geht. Zu sehen, dass es doch möglich ist, kratzt natürlich am Ego“, sagt Ulrich Wilken, der mit seiner Tochter im Januar 2024 zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie eingeladen wurde, um das Konzept von Myndpaar einem großen Fachpublikum vorzustellen. Die Neugierde in der Branche auf das ungewöhnliche Projekt aus Hamburg ist groß.
Das treibt die beiden Hamburger an, weiterzuwachsen. Langfristig wollen die Macher von Myndpaar auf die Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) setzen. Ein „Gamechanger“, glauben die Wilkens. So soll die Online-Therapie noch persönlicher und individueller werden. Das benötige jedoch Zeit und vor allem Geld. Aktuell wird das Start-up von sechs privaten Investoren finanziert, im Dezember 2021 stieg etwa das Medienunternehmen Klambt ein.
Neue App bietet niedrigschwelligen Zugang zu psychologischer Hilfe
Weitere Geldgeber sollen hinzukommen. Leonie Wilken, die BWL studiert und zuvor vier Jahre beim Telekommunikationsunternehmen Vodafone gearbeitet hat, kümmert sich um die Akquise von Geldgebern, Finanzen und Marketing. „Uns treibt es an, den Menschen niedrigschwelligen Zugang zu psychologischer Hilfe zu ermöglichen, aber natürlich wollen wir auch rentabel sein und Geld verdienen“, sagt Leonie Wilken.
Der Einstieg zum ersten Therapiemodul ist kostenlos, will man das volle Programm nutzen, fallen Kosten in Höhe von 20 Euro pro Monat oder 80 Euro pro Jahr an. Aktuell wenden die App rund 30.000 Nutzerinnen und Nutzer an, deren Durchschnittsalter bei 30 Jahren liegt.
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Hamburger Start-up Myndpaar will mit App in die USA expandieren
Der nächste Entwicklungsschritt ist aber die Erschließung neuer Märkte. Derzeit kommen die Myndpaar-User aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Aktuell laufen auch Gespräche mit Hamburger Unternehmen, die Interesse daran haben, die App ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Verfügung zu stellen. Schließlich haben Sorgen und Probleme in der Beziehung auch Einfluss auf den beruflichen Alltag.
Mittelfristig soll das Therapieangebot auch in englischer Sprache angeboten werden. Das Familien-Start-up strebt danach, die skandinavischen Länder sowie Belgien und Niederlande, vor allem aber England und die Vereinigten Staaten zu erobern.
„Diese Länder sind viel weiter als Deutschland. Mentale Gesundheit, die Bereitschaft, therapeutische Hilfe anzunehmen, sich coachen zu lassen, ist dort bereits viel ausgeprägter als bei uns in Deutschland. Die USA sind ein interessanter Markt, durchaus nicht einfach, ich glaube aber, dass wir es dort schaffen können“, sagt Ulrich Wilken, der gemeinsam mit seiner Tochter Leonie kein Geheimnis daraus macht, wie viel Spaß sie daran haben, eine gewisse Vorreiterrolle einzunehmen – vom Hinterhof in der Schanze aus die Psychotherapie-Welt zu revolutionieren.
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