Prozess Hamburg

Streit unter Zirkusfamilien: Opfer mit zehn Kopfverletzungen

| Lesedauer: 6 Minuten
Bettina Mittelacher
Die Angeklagten und ihre Verteidiger im Gerichtssaal: Bei dem Prozess geht es um eine Schlägerei im Hamburger Zirkusmilieu.

Die Angeklagten und ihre Verteidiger im Gerichtssaal: Bei dem Prozess geht es um eine Schlägerei im Hamburger Zirkusmilieu.

Foto: Bettina Mittelacher

Mitglieder einer Artistenfamilie sollen dem Profiboxer aufgelauert haben. Zeugenauftritt des Opfers hat Seltenheitswert.

Hamburg.  Der Mann hat Nehmer-Qualitäten. Als Profiboxer ist es Angelo F. wohl gewohnt, auch mal Schläge einstecken zu müssen. Und als Direktor einer Familie von Zirkusartisten kennt der 34-Jährige sicher auch gefährliche Situationen. Ein Leben ohne Netz und doppelten Boden.

Doch was hat es auf sich, dass der Artist so gar nicht mit der Sprache herausrücken will, was ihm zugestoßen ist? Warum er am Ende blutüberströmt dastand und im Krankenhaus behandelt werden musste? Womöglich sind die Hintergründe in länger andauernden Streitigkeiten zu suchen, in die zwei Zirkusfamilien verwickelt sein sollen. Vor Gericht in Hamburg erlebt man eine kollektive Mauer des Schweigens.

Prozess Hamburg: Streit unter Zirkusfamilien – Täter lauerten Opfer auf

Gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung lautet der Vorwurf gegen drei Angehörige der Artistenfamilie R. Laut Staatsanwaltschaft haben sie am 26. Januar 2021 Angelo F. „unter Inkaufnahme tödlicher Verletzungen“ attackiert.

Im Einzelnen sollen sie dem späteren Opfer vor der Flottbeker Kirche aufgelauert und ihn in seinem am Straßenrand geparkten Fahrzeug überfallen haben. Der 34-Jährige habe sich „keines Angriffs versehen“, heißt es.

Mitglieder einer Artistenfamilie greifen Profiboxer mit Fäusten an

Laut Anklage spielte sich die Tat so ab: Während einer der Angreifer ein Autofenster einschlug, soll ein anderer die Beifahrertür aufgerissen haben. Ein dritter, mit 37 Jahren der älteste der Angeklagten, habe die Tat gesichert.

Nun hätten die zwei Männer am Auto auf den 34-Jährigen eingeprügelt und mindestens zehn Verletzungen an dessen Kopf verursacht. Dabei sollen sie jedenfalls die Fäuste, womöglich auch einen Schlagring eingesetzt haben. Schließlich habe einer den anderen Aggressor aufgefordert, F. „totzuschlagen“. Zuletzt sollen sie den Geschädigten aus seinem Fahrzeug herausgezogen und auf die Motorhaube gedrückt haben. Doch F. sei es gelungen zu flüchten.

Prozess Hamburg: Zeugenauftritt des Opfers hat Seltenheitswert

Corona-Masken vor dem Gesicht, die Körper nahezu regungslos und leicht vorgebeugt: In stiller Eintracht sitzen die Angeklagten im Verhandlungssaal. Keiner aus dem Trio möchte sich äußern. Es ist dies eine häufig in Prozessen angewandte Strategie – und das gute Recht eines jeden Angeklagten.

Doch was sich bei dem Zeugenauftritt von Angelo F. abspielt, hat Seltenheitswert. Denn der 34-Jährige betont nicht nur, dass er keine Aussage machen möchte. Er meint sogar: „Ich bin nicht verletzt worden.“ Dabei spricht alles dafür, dass er seinerzeit massiv attackiert wurde. Es gibt Fotos, die seinen geschundenen, von Blutspuren gezeichneten Kopf zeigen, und einen Krankenhausbericht, in dem von zehn Schädelverletzungen die Rede ist, die genäht worden seien.

Verletzter Artist hüllt sich in Schweigen – Sorge vor Eskalation?

Was also mag der Grund dafür sein, dass der Artist sich in Schweigen hüllt? Schon kurz nach dem mysteriösen Vorfall hat er gegenüber Polizeibeamten versichert, dass er keine Strafanzeige erstatten wolle. Hat er schlicht „mit dem Fall abgeschlossen“, wie er schon vor rund einem Jahr in einem Gespräch mit dem Abendblatt sagte? Oder steckt mehr dahinter – etwa die Sorge, die den beiden Zirkusfamilien nachgesagte Feindschaft könne weiter eskalieren?

Schon zu Prozessbeginn spricht der Verteidiger eines der Angeklagten von einer „Problematik“ der Ermittlungen. Zunächst sei von Zeugen kein Verdächtiger benannt worden, es sei sogar explizit gesagt worden, dass keiner der Angreifer zu erkennen gewesen sei. Später seien jedoch die Namen der jetzt vor Gericht sitzenden Männer ins Spiel gebracht worden.

Laut Aktenlage habe das Opfer unterschiedliche Aussagen bei der Polizei gemacht

Die Anklage beruhe „auf Spekulationen“, meint ein weiterer Anwalt. Und insbesondere für eine Täterschaft des 37-Jährigen spreche „nichts, keine Fingerabdrücke, keine DNA. Nichts.“ Es kommt also im Wesentlichen auf die Aussage des mutmaßlichen Opfers Angelo F. an. Und dieser wird nicht nur, wie jeder Zeuge, ausführlich vom Richter belehrt, dass er die Wahrheit sagen müsse. Ihm wird zudem erläutert, dass er ein sogenanntes Auskunftsverweigerungsrecht habe.

Das bedeutet, dass er auf solche Fragen nicht antworten muss, die ihn oder einen Angehörigen in die Gefahr bringen würden, wegen einer Straftat verfolgt zu werden. Laut Aktenlage habe der 34-Jährige unterschiedliche Aussagen bei der Polizei gemacht, erklärt der Vorsitzende. Theoretisch könne er sich dabei schuldig gemacht haben, jemanden einer falschen Verdächtigung auszusetzen, oder die Verfolgung einer Straftat zu verhindern. Er wolle sich auf sein Recht, die Aussage zu verweigern, berufen, verkündet Angelo F. prompt. Und dass er noch nicht einmal verletzt worden sei.

Prozess Hamburg: Zeugin – „Am Ende stand er blutüberströmt da“

„Er ist so verwirrt, dass er auf stur schaltet“, meint ein Verteidiger dazu. Alle Verfahrensbeteiligten sind sich einig, dass auf die Aussage des Zeugen verzichtet werden solle. Was die Verletzungen betrifft, gibt es ohnehin objektive Befunde. Anhand von Fotos, die seinerzeit im Krankenhaus angefertigt wurden, erläutert eine rechtsmedizinische Sachverständige, dass massiv durch stumpfe Gewalt auf den Kopf des Opfers eingewirkt worden sein müsse.

Sowohl durch einen Schlagring, aber ebenso bereits durch einen kräftigen Faustschlag „mit voller Wucht“ könnten entsprechende Wunden entstehen. So heftige Gewalteinwirkungen könnten theoretisch auch zu Knochenbrüchen führen, was aber bei Angelo F. nicht der Fall sei.

Ob der Zeuge sich die Verletzungen auch vor dem in der Anklage genannten Vorfall, etwa als Profiboxer im Kampf oder im Training, zugezogen haben könne, möchte ein Verteidiger wissen. Nein, die seien wohl frisch, sagt die Expertin. Eine Zeugin, die die Auseinandersetzung beobachtet hat, nennt die Ereignisse „ziemlich erschreckend“. Die Angreifer hätten auf das Opfer eingeschlagen. „Er versuchte, sich loszureißen. Am Ende stand er blutüberströmt da.“ Und doch habe der so offensichtlich Verletzte zwei Worte ihr gegenüber immer wiederholt: „Er sagte: Keine Polizei! Keine Polizei!“ Der Prozess wird fortgesetzt.

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