Hamburg. Wie gelingt das Erinnern vor dem Hintergrund von Flucht und Vertreibung? Zeitgenössische Künstler treffen auf historische Dokumente.

„I think about Schwitters learning from Norway that his Merzbau has been destroyed.“ Ein Satz aus der Textarbeit „1943“ von Francis Alys. Der belgische Aktions- und Videokünstler erinnert darin an den nach Norwegen ins Exil vertriebenen Schriftsteller und Dadaisten Kurt Schwitters (1887–1948), dessen Atelier und begehbares Kunstwerk „Merzbau“ in Hannover durch Angriffe der Alliierten zerstört wurde. Schicksalhaft in vielerlei Hinsicht – das war das Kriegsjahr auch für die Existenzen vieler anderer Künstlerinnen und Künstler, die Alys in seinem Werk erwähnt.

Welche Rolle spielen Heimat und Zugehörigkeit aus globaler Perspektive, und wie kann Erinnerung vor dem Hintergrund von Flucht und Vertreibung gelingen? Diesen Fragen geht die aktuelle Ausstellung im Kunsthaus Hamburg nach: „The Futureless Memory“, kuratiert von Katja Schroeder und Dilek Winchester, bringt Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler mit historischen Dokumenten zusammen, die im Exil oder in Reflexion dazu entstanden sind. Auf diese Weise werden Um- und Lebens-Wege von Menschen, Kunstwerken, Texten und Instrumenten nachgezeichnet, wobei sich ebenso Brüche wie Verbindungslinien auftun.

Künstlerin Judith Raum setzt sich dem Bauhaus auseinander

Der Titel nimmt Bezug auf die Veröffentlichungen von Vamik D. Volkan, einem türkisch-zypriotischen Psychiater und Experten für Friedens- und Konfliktforschung. In seinen Texten über die Psychologie vertriebener und traumatisierter Menschen prägte er den Begriff der „zukunftslosen Erinnerung“.

Die Berliner Künstlerin Judith Raum, Jahrgang 1977, hat sich intensiv mit den Designern des Bauhaus und vor allem mit der Rolle der dort kreativ arbeitenden Frauen wie der jüdischen Textilgestalterin Otti Berger in Dessau beschäftigt. Berger wurde die Leitung der Weberei am New Bauhaus in Chicago angeboten, sie durfte aber nicht aus Jugoslawien in die USA einreisen. 1944 wurde sie in Auschwitz ermordet. Derartige Auseinandersetzungen fließen in Judith Raums „Stoffbesprechungen“ ein: Installationen von deckenhohen Stoffbahnen, die den Raum grafisch aufteilen und verschiedene Blickwinkel ermöglichen. Im Kunsthaus ist ihre aktuelle Textilarbeit „In den Tag hinein“ zu sehen.

Verflochten: Heimat, Erinnerung, Identität

Das seit 2017 fortlaufende Projekt „The Garden of (not) Forgetting: The Memory of a Place and the Topography of Destruction“ macht auf den erzwungenen Auszug des Botanischen Instituts der Universität Istanbul aufmerksam, das von deutsch-jüdischen Wissenschaftlern während ihres Exils in der Türkei gegründet wurde. Nach der Rückgabe an die Religionsverwaltung 2015 wurde das Gebäude abgerissen; seitdem ist der Botanische Garten für Besucher geschlossen. Das Künstlerduo Dilşad Aladağ & Eda Aslan stellt anhand von Druckgrafiken die Frage, inwieweit es möglich ist, einen Ort zu verschriftlichen und ihn in der Erinnerung lebendig zu erhalten.

Wie Heimat und Erinnerung, Identität und Inspiration miteinander verflochten sind, zeigt auch der Lebensweg von Gustave Courbet (1819–1919). Der französische Realist war so verbunden mit seiner Heimat Franche-Comté, dass er diese Landschaft immer wieder in seinen Gemälden verewigte. Bis er als politisch Verfolgter ins Schweizer Exil flüchtete und dort kein einziges, ihm würdiges Bild mehr auf die Leinwand brachte. Auch ihm und anderen von Vertreibung betroffenen Künstlern ist diese Ausstellung gewidmet.

„The Futureless Memory“ bis 22.11., Kunsthaus Hamburg (U Steinstraße, Meßberg), Klosterwall 15, Di–So 11.00–18.00, Eintritt 5,-/3,- (Hinweis: Wegen der vom 2. bis einschließlich 30. November geltenden Corona-Beschränkungen kann es zu Änderungen oder vorübergehenden Schließungen kommen)