Im starken Drama „Weißer weißer Tag“ gelangt der Hauptdarstellter in Abgründe, die hinter unbewältigtem Schmerz lauern.

Es gibt ja bekanntlich nur wenige Einöden, die man sich aus einem fahrenden Auto heraus anschauen kann, ohne dass es einen bald langweilt. Island gehört auf jeden Fall dazu. Vielleicht, weil man doch irgendwie an den Mythos glaubt, dass jederzeit ein schrulliger Troll die Nebelvorhänge beiseiteziehen könnte, um den Blick auf glühende Vulkangipfel freizugeben. Oder weil man den von Polarluft gegerbten Isländern per se mehr abzugewinnen meint als dem durchschnittlichen mitteleuropäischen Besucher klimatisierter Shopping-Malls.

Plötzlich rast das Auto durch eine Leitplanke und verschwindet. Die Straße macht der statischen Aufnahme einer kleinen Industrieanlage Platz. Es könnte sich auch um die mannshoch umzäunte Zentrale des hiesigen Geheimdienstes handeln. Menschen sind nicht zu sehen. Am Horizont erhebt sich ein Gebirgszug. Tageszeiten und Wolkenstand ändern sich im Zeitraffer. Dezente Violinen sind zu hören. Diese ersten fünf Minuten von „Weißer weißer Tag“ machen demütig, vor lauter Ruhe und gebrochener Schönheit.

Äußerlich scheint er ein Fels in der Brandung, doch in ihm brodelt es

Dann parkt ein Auto in der Anlage. Das Drama beginnt, schleichend. Ein alter Mann und seine etwa zehnjährige Enkelin durchstreifen eines der offenbar verlassenen Gebäude. Hier soll das Mädchen mit ihrer Mutter einziehen und kann sich das trotz allen Schmutzes und Gerümpels durchaus vorstellen.

Plötzlich steht ein Islandpony auf dem Flur. Dann wechseln, wieder im Zeitraffer, auch die Jahreszeiten. Schnee kommt und geht. Der Zaun wird niedriger, und irgendwann zieht mit einer zur Seite schiebbaren Terrassentür das Leben ein. Allein für diese ersten zehn Minuten lohnt sich schon die Kinokarte. Der Großvater stellt sich eine Minute später als Ingimundur (Ingvar Eggert Sigurðsson) vor, ein beurlaubter Polizeikommissar und Witwer.

Äußerlich scheint er ein Fels in der Brandung, doch in ihm brodelt es, wie unterirdische Lava. Auf der Suche nach einem Sinn des Unfalltods seiner geliebten Frau verdächtigt er erst seinen Nachbarn Olgeir (Hilmir Snaer Guðnason), eine Affäre mit ihr gehabt zu haben. Dann steigert er sich in einen handfesten Wahn, der zur existenziellen Bedrohung seiner Familie wird, der er gerade noch ein sicheres, neues Zuhause gebaut hatte.

Ingvar Eggert Sigurðsson spielt die Hauptrolle

Der bereits vielfach ausgezeichnete Filmemacher Hlynur Pálmason schickt hier seinen famosen Hauptdarsteller Ingvar Eggert Sigurðsson, den Island-Film-Affine aus „Die Teufelsinsel“ von Friðrik Þór Friðriksson, jüngere Zuschauer aus „Phantastische Tierwesen“ kennen könnten, in die Abgründe, die hinter unbewältigtem Schmerz und einem labilen, sehr maskulinen Ehrgefühl lauern.

Dass dieser Trip trotz und wegen aller Düsternis und Tragik auch zu einer geradezu ganzkörperlich erhebenden Erfahrung wird, ist neben seiner Ästhetik auch minimalistischen, punktgenauen Dialogen zu verdanken. Und nicht zuletzt wohl doch Island selbst, jenem mit Sicherheit als Geschenk an das Kino erschaffenen Land, wo selbst praktische Problemlösungen wie poetische Rätsel klingen.

Oder hat jemand wirklich schon mal versucht, Fischblutflecken mithilfe von Rotwein und Kerzenwachs aus einem Kleid zu entfernen?

„Weißer weißer Tag“ ISL, DK, S 2019, 104 Min., R: Hlynur Pálmason, Ingvar E. Sigurðsson, Ída Mekkín Hlynsdóttir, Hilmir Snaer Guðnason, im Abaton, Koralle, Zeise; https://arsenalfilm.de/weisser-weisser-tag