Er hat ein leichtes Leben, denkt man über Matteo (Riccardo Scamarcio). „Euforia“ beginnt mit beschwingten Szenen: Matteo, wie er nachts einen jungen Mann nackt vor sich tanzen lässt. Der Schnitt zum nächsten Morgen ist hart, legt aber umso mehr ein Leben mit großen Privilegien frei: Eine Haushälterin presst einen Saft für ihn. Er muss nur „Kaffee“ sagen, schon hat er ihn in der Hand. Der gut sitzende Anzug und das iPad verraten den erfolgreichen Businessman.

Dann reißt ein Anruf ihn aus diesem scheinbar mühelosen Alltag. Der Anruf kommt von einem Arzt, aber anders als man nach dieser Einleitung erwartet, ist nicht Matteo der Betroffene, sondern ein anderer: sein Bruder Ettore (Valerio Mastandrea). Der arbeitet als Lehrer in dem Provinzstädtchen, aus dem sie kommen, ist verheiratet und hat einen Sohn. Nach einem Zusammenbruch hat man einen Hirntumor festgestellt. Matteo holt ihn zu sich nach Rom, in die luxuriöse Dachwohnung mit gleich zwei Terrassen, und lässt ihn von angesehenen Ärzten untersuchen. Ettore bleibt nicht mehr viel Zeit.

Die überwiegend als Schauspielerin bekannte Regisseurin Valeria Golino wählt für ihr Familiendrama lauter überraschende Perspektiven. Die Geschichte nicht vom Standpunkt des todgeweihten Ettore zu erzählen, sondern aus dem Blickwinkel von Matteo, ist nur ein schräger Einfall. Hinzu kommt ein Rhythmus des Erzählens, der sich einerseits für Alltagsdetails viel Zeit nimmt, andererseits aber mit abrupten Schnitten die Handlung stets vorwärtstreibt.

Obwohl es um Krankheit und Sterben geht, hält sich „Euforia“ nur wenig in Krankenhäusern auf. Die Kamera scheint ständig in Bewegung. Während Ettores Leben zum Stillstand gekommen ist – selbst die Trennung von seiner Frau ist verschoben –, macht Matteo einfach weiter wie er es gewohnt ist. Nicht, dass ihm an seinem Bruder nichts läge, ganz im Gegenteil, er weiß nur nicht, was er tun soll, um ihm zu helfen.

Seinen Reichtum auszuspielen – er überlässt ihm den Chauffeur und eine Kreditkarte –, geht erst mal nach hinten los. Dann versucht er es mit einer Art geheimer Lebensplanung, fährt mit ihm zu einem Wallfahrtsort nach Bosnien, lässt zuerst die Ehefrau (Isabella Ferrari) und dann die Geliebte (Jasmin Trinca) kommen, damit Ettore sich verabschieden kann. Ohne ihm reinen Wein über seinen Zustand einzuschenken.

Das Herz des Films gehört jedoch nicht dem Thema Abschied, sondern dem des Zusammenseins. Was es heißt, im euphorischen Sinn einen Bruder zu haben, das zeigt Golino hier einmal nicht mit der müden Dramaturgie von Gegensätze-Überwinden und entscheidender Aussprache, sondern in der atmosphärischen Montage von Gesprächsfetzen. Immer wieder sitzen die Brüder zusammen, scherzen, machen sich runter, gehen aufeinander los. Aber dann stellen sie sich auch die eine oder andere entscheidende Frage und bauen so ein fragiles Gerüst der Vertrautheit auf, das sich im Lauf des Films verdichtet. Am Ende reicht Matteo ein Blick gen Himmel, um Ettore ausfindig zu machen.

„Euforia“ I 2018, 115 Minuten, ab 12 Jahren, Regie: Valeria Golino, Darsteller: Riccardo Scamarcio, Valerio Mastandrea, im 3001 (OmU)