Ganz am Anfang steht auf einer Bühne vor ausverkauftem Saal ein Klappstuhl. Man sieht ihn von hinten, „Agnes V.“ steht darauf. Aber er ist leer. So beginnt „Varda par Agnès“, der letzte Film von Agnès Varda. Die Filmemacherin hat ihn noch im Februar 2019 auf der Berlinale vorgestellt. Dabei wirkte die 90-Jährige verschmitzt, nichts ließ vermuten, dass sie sechs Wochen später, am 29. März, einem Krebsleiden erliegen sollte. Ihr letzter Film ist also ein Vermächtnis und sollte es auch sein.

Im Film nimmt sie natürlich doch Platz darin. Sie gibt eine Master­class in eigener Sache. Und kommentiert ihre Kunst. Und ihr Leben. Was nicht zu trennen ist. Agnès Varda war stets eine Sammlerin. Nicht umsonst hieß einer ihrer Filme „Die Sammler und die Sammlerin“, wo sie Menschen dokumentierte, die Sachen auflasen. In ihren Spielfilmen suchte sie – immer spielerisch, experimentell, aber auch ironisch – die kleinen, wahren, dokumentarischen Momente des Alltags. Ihre Dokumentarfilme lebten von fantasievoller Gestaltung. Sie nennt das, angelehnt an den literarischen Stil („Ecriture“) die Filmhandschrift („Cinécriture“).

Wenn man Menschen öffnen könnte, sagt sie einmal, würde man Landschaften sehen. Wenn man sie selbst öffnen würde, sähe man einen Strand. Agnès Varda liebte es, das Meer zu beobachten und was es ans Ufer spülte. Klar, dass es bei dieser Form des Findens und Sammelns keine klare Struktur gibt, geben kann. Agnès Varda spaziert in diesem Film rein assoziativ durchs eigene Werk. Sie springt von einem zum andern. Und doch ergibt sich das Mosaik eines Gesamtkunstwerks. Man sieht die kleine zierliche Frau in Jung und Alt, immer mit der gleichen signifikanten Helmfrisur. Wir sehen sie, wie sie schon 1954 ohne jede Erfahrung, ohne jede Mittel ihren ersten Film „La Pointe-Courte“ dreht und damit die Nouvelle Vague, als deren Großmutter man sie später bezeichnen sollte, um Jahre vorausnimmt.

Wir sehen sie 1990 am Sterbebett ihres Mannes, des großen Jacques Demy, dem zu Ehren sie „Jacquot“ dreht, einen Film über seine Jugend, den sie mit Nahaufnahmen des Sterbenden kontrastiert. Ein schönerer Nachruf wurde nie auf einen Filmemacher gedreht. Wir sehen ihre Anfänge als Fotografin und wie sie nach einem schlimmen Kinoflop auf Jahre dahin zurückkehrt. Um dann erst durch das Aufkommen digitaler Kameras wieder zum Film zurückzukehren.

Als sie 80 wurde, graute Agnès Varda vor der Zahl und drehte deshalb einen Film über sich, „Die Strände von Agnès“, der schon ein Vermächtnis sein sollte. Der Schaffensdrang hielt dennoch an. Die Sammlerin hat aus Abfallprodukten In­stallationen erschaffen und, in digitalen Zeiten, aus alten Filmstreifen und -dosen Ausstellungspavillons gebaut. Zum 90. hat sie sich dann wieder einen Film geschenkt. Eine ganz persönliche Rückschau. Wird man auch ihr einmal so einen filmischen Nachruf widmen können, wie sie es bei Demy tat? Fast wirkt es, als habe sie das selbst besorgt. Dabei nennt Varda ihren Abschiedsfilm eine bloße „Plauderei“. Welch Untertreibung.

Der Film endet am Strand. Aber nicht mit einem leeren Regiestuhl. Stattdessen wirbelt Sand auf, und die große kleine Dame beschließt, ihre Plauderei so zu beenden. „Ich verschwinde in der Unschärfe“, spricht sie kokett aus dem Off. Und dann, die letzten Worte: „Ich verlasse Sie.“

„Varda par Agnès“ F 2018, 115 Minuten, ohne Altersbeschränkung, Regie: Agnès Varda, Didier Rouget, im 3001 (OmU); Abaton, Blankeneser