Die Demütigung ist öffentlich und vollständig. Die Epauletten werden ihm von der Schulter und jeder Knopf einzeln vom Uniformrock gerissen, der Säbel zerbrochen und dessen Scheide zu Boden geschleudert. Am 5.1.1895 wird Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus im Hof der Pariser École militaire des Landesverrats für schuldig erklärt. Und vor der gesamten stramm stehenden Armee und neugierigen Zaungästen degradiert. Sichtlich um Haltung ringend, ruft der derart Geschmähte, bevor er in die Verbannung geschickt wird, dass er unschuldig sei.

Roman Polanski traut sich was. Man kann sich seinen jüngsten Film „Intrige“, kann sich vor allem diese ersten Szenen nicht ansehen, ohne dabei an den Regisseur selbst zu denken. An die Anklagen gegen ihn, den Missbrauchsfall von 1977, der 2009 in den USA neu aufgerollt wurde, und an einen weiteren Vergewaltigungsvorwurf, der im Zuge der #MeToo-Debatte gegen ihn erhoben wurde.

Polanski ist unbestritten einer der ganz großen Meister des europäischen Autorenkinos, aber dieser Makel wird ihm ewig anhaften. Und dann dreht der Regisseur einen Film über einen Mann, der zu Unrecht verurteilt und verfemt wird? Es geht hier indes nicht um einen Akt der Selbstreinigung oder auch nur -rechtfertigung. In die Ecke getrieben, scheint Polanski allerdings nicht zu resignieren, sondern künstlerisch zu neuer Form aufzulaufen. „Intrige“ ist sein stärkster, kräftigster Film seit Langem und ein moralisch integrer obendrein, der in Frankreich alle seine früheren Kassenrekorde gebrochen hat.

Polanskis Kunstgriff besteht darin, die hochkomplexe Geschichte aus den Augenwinkeln einer einzigen Person zu erzählen und verständlich zu machen: denen des Oberst Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin). Picquart hat Dreyfus (Louis Garrel) ausgebildet, er ist auch bei dessen Degradierung anwesend. Kurze Zeit später aber wird er zum neuen Chef des militärischen Geheimdienstes ernannt. Und stößt dort auf viele Widersprüche in der Causa.

Es gibt Beweise, die Dreyfus’ Unschuld bewiesen hätten, aber offensichtlich zurückgehalten wurden. In der peinlichen Affäre gab es fünf Verdächtige. Nur einer davon war Jude. Und der wurde zum Sündenbock ernannt. Während der wahre Schuldige munter weiterspioniert.

Picquart wird schließlich selbst ausspioniert, degradiert, in die Kolonien geschickt und als Verräter verunglimpft. Doch er lässt sich nicht einschüchtern. Findet Verbündete. Den prominentesten schließlich in Émile Zola (André Marcon), der 1898 in seinem berühmten öffentlichen Brief „J’accuse“ an den französischen Präsidenten die gesamte Generalität der Korruption bezichtigt. „J’accuse“, so heißt der Film auch im Original. Das Drehbuch hat Polanski, wie schon bei „Ghostwriter“, zusammen mit Robert Harris verfasst, der die Affäre bereits in seinem Roman „Intrige“ behandelt hat.

Die düstere Geschichte überträgt der Regisseur in nüchterne, fast sterile Bilder. In dumpffahlen Farbtönen, durch die die roten Streifen der Militäruniformen wie Warnsignale hervorstechen. Polanski zeigt allerorten den Muff einer selbstgerechten Kaste – und einen Geheimdienst, der seinen Namen nicht verdient, wo Informanten saufen und Karten spielen und der Portier selig döst.

„Intrige“ ist so nicht nur eine spannende Geschichtsstunde, sondern weist immer wieder weit über den eigentlichen Fall hinaus. Der Film handelt auch von „alternativen Fakten“, von selbstherrlichen Amtsträgern, die sich über das Recht stellen, Whistleblowern, die mutig für die Wahrheit einstehen und dafür selbst verunglimpft werden.

Intrige F/I 2019, 132 Minuten, ab 12 Jahren, Regie: Roman Polanski, Darsteller: Jean Dujardin, Louis Garrel, Emmanuelle Seigner, im Abaton (OmU), Blankeneser, Passage