Natürlich sieht man im Dunkeln weniger als am hellen Tag, aber man erblickt allemal mehr als nur die Hand vor Augen, und wer genau hinsieht, kann Vertrautes in neuem Licht finden, auch wenn es nur das Restlicht ist. Dieses Phänomen macht sich der Dokumentarfilm „Norddeutschland bei Nacht“ zum Wirkungsprinzip. „Die Nacht hat ihre eigenen Geschichten“, heißt es am Anfang richtig, und los geht es mit einer Reise, die von der Dämmerung bis zum Morgengrauen dauert.

Vieles von dem, was man da gezeigt bekommt, hat man schon einmal gesehen, aber eben noch nicht so. Den Kieler Hauptbahnhof und die Werft am Ostufer, an der in Leuchtschrift steht: „Seefahrer, denke an die Sirenen!“ Aber es geht nicht nur um die großen Städte, sondern auch um das Land dazwischen, wie zum Beispiel den Nord-Ostsee-Kanal, die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt. Fremd und doch vertraut kommen einem die Orte im Dunkeln bei den langen Kamerafahrten vor.

Zwischendurch werden immer wieder Menschen vorgestellt, deren Tätigkeit eine besondere Beziehung zu diesem ­Tagesabschnitt aufweist. Wie etwa die Kieler Meteorologie-Studentin Laura Kranich, die bei gutem Wetter an der Ostsee-Steilküste in Jellenbek am Schwedeneck mit ihrer Kamera auf Wetterphänomene wie das Nordlicht oder „nachtendliche Wolken“ wartet, um sie zu fotografieren. Der Film zeigt den Amrumer Krabbenfischer Andreas Thaden, dessen Assistent Albert immer wieder die Netze von Meersalat befreien muss, während Thaden Weisheiten verbreitet wie: „Wenn man Krabben fangen will, muss man auch wissen, wo keine sind.“ Außerdem gewinnt der Fischer nebenbei Salz aus dem Nordseewasser, das er an Gastronomen und Touristen verkauft.

Natürlich spielt auch Hamburg eine Rolle, die „Metropole des Nordens“. Die Kamera schwebt über der Elbphilharmonie, dem Millerntor, der Wasserfontäne auf der Binnenalster und dem angestrahlten Rathaus: „Kein Gebäude darf heller strahlen.“ Pyrotechniker Sven Schneider, der für das Freitags-Feuerwerk des Doms zuständig ist, erläutert seine Kunst.

Nicht alle dieser kleinen Episoden sind interessant, aber viele sind schön. Regisseur Marcus Fischötter („Die Elbe von oben“) gelingt mit seinem Dokumentarfilm ein nächtlicher Spaziergang, der – untermalt von Ambient-Musik – teilweise meditative Qualitäten entwickelt. Der Fernsehproduktion vorab eine Kino-Auswertung zu gönnen ist eine kluge ­Entscheidung.

„Norddeutschland bei Nacht“ D 2019, 93 Min., o. A., R: Marcus Fischötter, tägl. im Abaton, Blankeneser, Zeise-Kino; www.im-film.de