Die Fantasie ist ein Meer an Vorstellungskraft und Möglichkeiten. Dafür gibt es jetzt ein ganz plastisches, bildhaftes Gleichnis. In „Mary Poppins’ Rückkehr“ stehen drei unwillige Kinder im Badezimmer, weil sie in die Wanne müssen. Kein Kind badet gern. Aber Mary Poppins, das berühmteste aller Kindermädchen, weiß das nicht nur mit Badeschaum schmackhaft zu machen. Sie wirft noch ein Modellschiff ins Wasser, eine Delfinflosse taucht auch auf. Und dann springen alle Kinder auf einmal ins Wasser, die Nanny obendrein, und alle landen in einem Ozean voll bunter Fische.

Die Wanne voll unbegrenzter Möglichkeiten, das ist natürlich auch ein Sinnbild fürs Kino selbst, ein schwarzer leerer Kasten, durch den man in Wechselbäder der Gefühle taucht. Selten ist das so zauberhaft, so unvergesslich gelungen wie 1964 mit „Mary Poppins“, der Verfilmung von P. L. Travers’ Kinderbüchern. Wo die wundersame Kinderfrau mit dem Regenschirm angeflogen kam und nicht nur quengelnde Kinder, sondern auch deren gestresste Eltern zu einer besseren Familie erzog. Und alle zum Lachen, Singen und Tanzen brachte. Mit Songs, die immer noch Ohrwürmer sind, wie „Chim Chim Cher-ee“ oder „Supercalifragilistic­expialigetisch“, bei dem sich bis heute erweist, wer ein echter Mary-Poppins-Fan ist: Nur dem geht dieser Zungenbrecher stolperfrei über die Lippen.

Emily Blunt erweist sich als würdige Nachfolgerin

Diese Woche nun, 54 Jahre später, kehrt Mary Poppins zurück, als Weihnachtsfilm für die ganze Familie. Diesmal in Gestalt von Emily Blunt. Wieder wird die wundersame Nanny vom Wind herbeigeweht, wieder landet sie im Kirschbaumweg Nummer 17. London sieht immer noch so märchenhaft entrückt aus wie damals, auch wenn die Fortsetzung zur Zeit der Weltwirtschaftskrise spielt. Die Kinder von einst sind erwachsen geworden. Und machen irgendwie dieselben Fehler wie ihre Eltern. Jane Banks (Emily Mortimer) geht ständig für eine bessere Welt demonstrieren, kümmert sich aber zu wenig um ihren Bruder Michael (Ben Wishaw). Der arbeitet bei derselben Bank wie einst der Papa und hat kaum Zeit für seine drei Kinder. Was umso schlimmer ist, als die ihre Mutter verloren haben. Aber für die Pflege seiner nun verstorbenen Frau hat Michael einen Kredit aufs Haus aufgenommen. Und sein eigener Chef (Colin Firth) will in Besitz dieses Hauses kommen.

Keine guten Zeiten für die Kinder. Kein Wunder, dass die toben und kein Kindermädchen es lange mit ihnen aushält. Bis Mary Poppins erscheint. Seltsam, dass die erwachsen gewordenen Banks-Kinder sie zwar herzlich begrüßen, aber die eigenen, frühen Abenteuer mit ihr als Wahnvorstellung abtun. Aber auch sie werden natürlich bekehrt. Und um die ablaufende Frist des Bankchefs zu verlängern, klettert schließlich halb London auf den Big Ben, um die Zeit um ein paar Minuten zurückzudrehen.

Aber ist die Fantasie wirklich ein Meer an Vorstellungskraft? Die Frage muss man dem Disney-Konzern schon stellen dürfen. Früher hat das Mäuse-Imperium die Welt mit zahllosen Trickfilmen bezaubert. Später wurden diese Erfolge mit animierten Fortsetzungen auf dem DVD-Markt recycelt. Seit einigen Jahren nun dreht das Studio die alten Trickfilme noch mal neu, aber diesmal als Realfilm. Um Groß und Klein zu bezaubern, die heutigen Kinder und die, die mit den Trick­filmen aufgewachsen sind.

Das gelingt aber nur teilweise. Emily Blunt ist eine peppige Poppins und würdige Nachfolgerin von Julie Andrews, wenngleich sie nicht so gut singen kann. Lin-Manuel Miranda dagegen, der als Lampenanzünder Jack mit ihr und den Kindern in die Fantasiewelten taucht, singt und tanzt so hinreißend wie im Original Dick Van Dyke als Schornsteinfeger. Der Beruf von einst war aber offensichtlich zu schmutzig für diese Fortsetzung, die doch irgendwie auch ein Remake ist.

Sehr hübsch sind auch die Effekte, wenn die realen Figuren in Trickfilmszenen geraten. Die Choreografien wirken dagegen eher schleppend. Die neuen Songs können auch nicht mithalten mit den alten Gassenhauern, ihre Melodien hat man schon beim Verlassen des Kinos wieder vergessen. Am meisten aber krankt „Mary Poppins’ Rückkehr“ daran, dass Disney in diesem Jahr schon die Neuversion von „Pu der Bär“ herausgebracht hat, in dem der erwachsen gewordene Christopher Robin die gleichen Probleme mit seinen Kindern und seinem Chef hatte. „Mary Poppins’ Rückkehr“ ist damit schon der zweite Rückgriff auf den großen ’64er-Hit.

Auch Disney würde wohl gern die Uhr zurückstellen. Heutige Kinder, die mit dem Tempo etwa der „Minions“ aufwachsen, wird man damit eher schwer begeistern. „Mary Poppins’ Rückkehr“ ist vor allem ein Nostalgietrip für die Kinder von damals. Die erkennen auch, dass der inzwischen 93-jährige Dick Van Dyke einen Cameo-Auftritt absolviert. Man fragt sich allerdings, warum Julie Andrews, die „erst“ 83 ist, nicht auch noch mal vorbeischaut. Fazit: Die neue Mary Poppins mag vielleicht super sein, aber sicher nicht califragilistigexpialigetisch.

„Mary Poppins’ Rückkehr“ USA 2018, 131 Minuten, ohne Altersbeschränkung, Regie: Rob Marshall, Darsteller: Emily Blunt, Ben Whi­shaw und Meryl Streep, täglich im Astor, Blankeneser, Cinemaxx Dammtor/Harburg/Wandsbek, Savoy (OF), UCIs Mundsburg/Othmarschen Park/Wandsbek