Soll der Horizont tanzen? Nachdenklich blickt Dagmar Gausmann-Läpple von dem Plan in ihrer Hand auf die taubengraue Wand und zurück. Ganz frei ist die Fläche, nur einige Kreppstreifen zeugen davon, dass es gerade um eine der Kernfragen jeder Ausstellung geht, nämlich die Hängung der Exponate. Jonas Laus­tröer hat in seinen sturmgepeitschten Seestücken die Horizontlinie immer auf gleicher Höhe platziert. Nur sind die Bilder unterschiedlich groß gerahmt. Was ist nun wichtiger, das äußere Gleichmaß der Bildanordnung oder die Kontinuität der Horizontlinie?

Das Meer spielt eine tragende Rolle in der neuen Ausstellung des Kinderbuchhauses. Gausmann-Läpple, Leiterin und Kuratorin in Personalunion, ist im Endspurt für die neue Jahresausstellung im Mini-Königreich des Kinderbuchs unter dem Dach des Altonaer Museums. Bis zum 30. April 2016 sind dort unter der Überschrift „Von ­Fischern und ihren Frauen“ Werke dreier Hamburger Illustrationskünstler zu sehen: Sabine Wilharm, Jahrgang 1954, Katja Gehrmann, Jahrgang 1968, und eben Lauströer, geboren 1979, haben das Märchen „Von dem Fischer un syne Frau“ in den vergangenen Jahren illustriert. Jeder bekommt eine Wand für seine Illustrationen, jeder wirft einen faszinierend eigenen Blick auf die plattdeutsche Geschichte.

„Das Märchen ist ähnlich oft illus­triert worden wie ,Rotkäppchen‘“, sagt Gausmann-Läpple. „Es spricht für ­seine Aktualität, dass sich allein in den vergangenen Jahren gleich drei namhafte Künstler dem Stoff zugewandt haben.“

„Meine Frau, die Ilsebill, will nicht so, wie ich wohl will“, diesen Reim aus dem Märchen kennt jeder Ehemann, der sich gerne mal halb scherzhaft als Unterdrückter bemitleiden lassen will. Besagte Ilsebill schickt ihren Mann immer wieder zu dem Butt. Der Fischer hat dem Fisch das Leben geschenkt, weil der sprechen konnte, die Gattin fordert Dank.

Immer verwegener werden ihre Wünsche: Eine Hütte will sie, dann einen Palast, den Königsthron, die Papstwürde – und schließlich begehrt sie, Gott höchstpersönlich zu werden. Das kann ja nicht gut gehen.

Katja Gehrmann feiert trotzdem ein Fest der Farbigkeit. Indem sie ihre Bilder schwungvoll mit Acrylfarbe grundiert, vollzieht sie nach, was der Maler Philipp Otto Runge, der das Märchen Anfang des 19. Jahrhunderts den Mecklenburgern ablauschte, ihm an Farbdramaturgie schon eingeschrieben hat: Von klar und still wandelt sich das Wasser im Laufe der unheilvollen ­Geschichte zu grünlich, schlammig über violett gurgelnd bis pechschwarz tosend. Auf die Farbunterlage legt Gehrmann eine Folie und zeichnet darauf mit Kohlestift ihre Figuren: den Fischer, einen gut gelaunten, bärtigen Kerl, seine unternehmungslustige Frau, Häuser, Bootsstege, Schiffe und jede Menge Plattfische, in getupft, gestreift und kinderzimmerbunt.

Die Folie kann Gehrmann beliebig auf dem Untergrund verschieben, dann werden die Figuren von der Rückseite farbig gemalt. Die Künstlerin fasst die Gesichtsausdrücke der Protagonisten mit wenigen Strichen und Tupfern in eine Bildsprache, die von Kindern mühelos zu entziffern ist.

Ausgerechnet der Jüngste der drei Künstler nimmt eine dezidiert politische Perspektive ein. Nicht zufällig ähnelt Jonas Lauströer Fischersfrau, eine unzufriedene Alte, Englands Königin Elisabeth. Die Anspielung ist nicht notwendig als Personenschelte gemeint; vielmehr begreift Lauströer die Pracht als Symbol für eine Maßlosigkeit, die es eben nicht nur im Märchen gibt, sondern auch in unserer realen Welt.

Seine Bildstimmungen kontrastieren scharf zu der Pracht, die Ilsebill-Elisabeth aufhäuft. Alle Arten von Grautönen beherrschen seine Bilder. Lauströer hat Tausende von Fotos eingescannt, um daraus eine bestürzende Essenz zu destillieren. Dem Fischer mit der Mütze und den schwieligen Händen rückt er mit Acrylfarben und Ölkreiden so nah, als hätte er selbst jahrelang auf einem Kutter geschuftet. Die See kocht und brodelt in abstrakten Farbschichtungen: schwarz, rot, dunkles Petrolgrün. Und das in einem Bilderbuch?

„Buchillustrationen sind nicht nur für Kinder da“, betont Gausmann-Läpple. Lauströer wendet sich an Betrachter ­jeder Altersgruppe. Märchen sind keineswegs ausschließlich Kinderliteratur. Sie sind Volksgut. Die Brüder Grimm nahmen Runges Fassung in ihre berühmte Märchensammlung auf, doch sie sind genauso wenig Urheber wie Runge selbst. Die Parabel auf die ewige menschliche Unzufriedenheit findet sich in unterschiedlichen Ausprägungen in vielen Ländern der Welt, von Spanien im Westen und bis nach Sibirien im Osten. Und der Schriftsteller Günter Grass hat sie in seinem Roman „Der Butt“ zu einem Menschheitsgleichnis geweitet.

Sabine Wilharm, die Frau mit dem unerschöpflichen Sinn für freche kleine Nebenszenen, setzt nicht einfach den Text eins zu eins um. Was gibt es nicht alles zu entdecken in ihren Wimmelbildern! Wie umgarnt die dralle Fischersfrau ihren Gatten, wie fliegen Hütte, Ohrensessel, Hauskatze unter ihrem Fußtritt in alle Himmelsrichtungen! Bei Wilharm geht es ein wenig surrealistisch zu. Ständig verrutschen Achsen und Perspektiven, stellt sich ein Schloss bei genauerem Hinsehen als Hollywood-Kulisse heraus, und dann findet der ganze Größenwahn auch noch auf dem Meeresgrund statt.

Das kann ja eigentlich nicht sein. Aber was ist Wahrheit? Solche Fragen nimmt die Ausstellung mit der für Gausmann-Läpples kuratorische Handschrift typischen Leichtigkeit auf. In einem halben Eichenfass finden die Kinder papierene Fische, darauf steht etwa: Ist der Fischer dumm? Ist Ilsebill eine böse Frau, die durch ihre Gier alles kaputt macht? Darf man sich nicht auch was wünschen im Leben?

Jeder der drei Künstler gibt uns unterschiedliche Antworten, über jede lohnt es länger nachzudenken. Schon diese Offenheit lohnt den Besuch dieser kleinen, feinen Ausstellung.

„Von Fischern und ihren Frauen“ So 10 bis 17 Uhr, Altonaer Museum“, Museumstraße 23 (Anreise hier), Eintritt 7,59, ermäßigt 4,50 Euro. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren zahlen keinen Eintritt; die Ausstellung ist bis zum 30. April 2016, dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr zu sehen