Für das Festival tun sich zahlreiche Hamburger Veranstalter zusammen. Da ist für jeden Geschmack und jede Weltsicht etwas dabei.

Religion ist Opium fürs Volk. Dieses Diktum stammt von Karl Marx und ist eine jener Zuspitzungen des umstrittenen Dogmatikers, die die Weltgeschichte prägen sollten. In seiner Folge versuchten die Kommunisten alles auszumerzen, was auch nur entfernt nach Transzendenz roch.

Sie haben es nicht geschafft. Selbst unter den überzeugtesten Hardlinern bricht sich die Suche nach einem Sinn oder einer Instanz, die über unser physisches Erdenleben hinausweisen, immer wieder Bahn. Je heftiger die Menschen sich vordergründig gegen Spiritualität wehren, desto raffinierter schleicht diese sich durch die Hintertür wieder herein. Der kleinste gemeinsame Nenner ist dabei die romantische Liebe, wie sie rund um den Erdball in Literatur, Kino, Oper gefeiert wird: Liegt nicht in der Sehnsucht nach Verschmelzung mit dem Gegenüber die Hoffnung auf ein erweitertes Ich, auf einen anderen Zugang zur Welt?

Ab Anfang Februar spürt das Festival Lux aeterna diesem Phänomen nach. Natürlich stammt der Begriff aus dem Kernbestand abendländischer Identität, nämlich der Liturgie einer katholischen Totenmesse. Doch der Untertitel "Ein Musikfest für die Seele" macht gleich klar: Hier geht es nicht nur um geistliche Musik im engeren, europäischen Sinne, sondern um jene universelle Suche nach Spiritualität, deren Lingua franca die Musik ist. Schließlich lassen sich viele Menschen im 21. Jahrhundert ihren Glauben nicht mehr von einer Kirche vorschreiben, sondern suchen sich ihr persönliches Credo aus einem riesigen Spektrum von Religionen, Philosophien und Lebenshaltungen zusammen. Das Glauben ist so global geworden wie Urlaubsverkehr und Handelsströme. Deshalb finden sich unter den rund 25 Konzerten exquisite Beispiele spiritueller Musik aus aller Welt.

Für dieses ehrgeizige Vorhaben haben die Elbphilharmonie-Konzerte sich eine Reihe Hamburger Veranstalter ins Boot geholt: "NDR Das Alte Werk" ist dabei, der NDR Chor, die Karsten Jahnke Konzertdirektion, Kampnagel, das Ensemble Resonanz, die Philharmoniker und die Symphoniker und als interdisziplinärer Zaungast das Metropolis Kino. Herausgekommen ist ein wahres Mosaik aus Besetzungen, Musikstilen und auch Weltsichten.

Den Löwenanteil bildet natürlich die im engeren Sinne christliche Musik. Das Eröffnungskonzert am zweiten Februar bestreiten der große Pionier der Gambe, der Katalane Jordi Savall, und seine Ensembles "Le Concert des Nations" und "La Capella Reial de Catalunya" mit einem der bedeutendsten Werke der Kirchenmusik überhaupt, mit Monteverdis "Marienvesper".

Ähnlich betörend dürfte das Konzert des Hilliard Ensembles werden. Das britische Männerquartett fängt seine Hörer förmlich ein mit seinen Klängen, die von überallher zu kommen scheinen und einen in Schwingung und Trance versetzen. In der Laeiszhalle begeben sich die vier mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter der Leitung von Paavo Järvi auf eine Reise durch die Jahrhunderte, von dem mittelalterlichen Guillaume de Machaut bis zu Erkki-Sven Tüür, einem Komponisten der Gegenwart.

Wenn eine Besetzung für die spirituelle Musik prädestiniert ist, dann ist es wohl der Chor. Ohnehin ist die menschliche Stimme der Seele von allen Instrumenten am nächsten, das wussten schon die Alten Meister. In der Gruppe verschmelzen Stimmen zudem zu einem überindividuellen Ganzen. Es gibt wohl niemanden, den dieser klingende Vorgeschmack aufs Paradies ungerührt ließe. Das demonstrieren bei Lux aeterna so berufene Ensembles wie das Vokalensemble Stile Antico. Unter dem Motto "Vide homo" kontrastieren die Sänger im Verein mit dem Pianisten Marino Formenti Werke der Frührenaissance mit Klassikern der zeitgenössischen Musik. Der Chorus sine nomine huldigt dem Festivalnamen und bringt neben Verdi und Bruckner Ligetis Lux aeterna für 16-stimmigen Chor a cappella zum Klingen. Dazu spielt Martin Haselböck auf der Orgel Werke des 20. Jahrhunderts und improvisiert. Und die drei Damen des skandinavischen Trio Mediæval führen die Rekonstruktion einer gregorianischen "Ladymass" aus einem britischen Kloster auf. Zu dieser uralten Musik gibt es taufrische visuelle Eindrücke, nämlich Projektionen des Videokünstlers Lillevan.

Keine Angst vor neuen Kunstformen! Eine elektronische und zugleich sinnliche Version der Spiritualitätssuche präsentiert der Liverpooler Philip Jeck bei "ePhil" im KörberForum. Der Körper als Resonanzraum für elektronische Klangwelten, auch das ist eine Form der Trance.

Die malische Sängerin Fatoumata Diawara, die schon in jungen Jahren mit den Großen des Jazz auf der Bühne stand, beweist mit ihren tiefgründigen Songtexten und ihrem Mix aus afrikanischen Rhythmen, Jazz und Funk, dass sich Groove und Nachdenklichkeit nicht ausschließen müssen. Wie sie wandelt auch Jivan Gasparyan zwischen den Welten: Er verbindet armenische Volksmusik mit Pop, Jazz und Klassik und bleibt doch unverkennbar durch den melancholischen Klang seines Instruments, des Duduk. Rauschhaft-ekstatisch wird es schließlich, wenn der Großmeister des sogenannten Qawwali-Gesangs, der Pakistaner Asif Ali Khan, die Klangwelt des Sufismus nach Hamburg bringt.

Um Trance ganz anderer Art geht es bei den barocken "Rosenkranz-Sonaten" von Heinrich Ignaz Franz Biber. Die Geigerin Midori Seiler und der Cembalist Christian Rieger folgen den Kugeln des Rosenkranzes, an denen entlang Biber seinen berühmten Zyklus komponierte. Der Trompeter Gábor Boldoczki und die Organistin Iveta Apkalna wiederum warten mit der Instrumentalkombination auf, die im Abendland wie keine andere für die Herrlichkeit Gottes steht. Der große Geiger Gidon Kremer und seine Kremerata Baltica spielen Werke zwischen Freiheitsstreben und Unterdrückung von Vasks, Kancheli und Glass, das Ensemble Resonanz begibt sich mit Musik der Gegenwart auf die Suche nach Erleuchtung.

Natürlich kommen auch junge Hörer zu ihrem Recht: Unter dem Motto "Kinderorgel" führen Grundschüler vor, was man mit der Königin der Instrumente so alles anstellen kann. Und in den Himmel führen die Gambistin Romina Lischka und der Erzähler Dan Tanson mit "Wolken-Oto und die aprikosenfarbene Katze".

Die Musiker des Quatuor Diotima, ausgewiesene Avantgardespezialisten, huldigen George Crumbs "Black Angels". Das Belcea Quartet hingegen spielt neben Schostakowitschs drittem Streichquartett auch "Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz" von Haydn: klingende Meditationen über Bibeltexte. Deren Lesung übernimmt Thomas Quasthoff, der zwar seine Karriere als Bariton beendet hat, der Bühne aber treu geblieben ist.

Das eigentliche Abschlusskonzert ist dann schon vorbei. Ton Koopman, einer der ganz Großen der Originalklangbewegung, und sein Amsterdam Baroque Orchestra & Choir kommen mit einem reinen Telemann-Programm in den Michel: eine Verneigung vor dem Genius loci, war doch Telemann als Kirchenmusikdirektor und Leiter der Gänsemarktoper jahrzehntelang gewissermaßen der Generalintendant des Hamburger Musiklebens. Koopman dirigiert "Die Donnerode", die Telemann für die Opfer des verheerenden Erdbebens von Lissabon 1756 schrieb, und dazu zwei Lamentationes auf einen Hamburger Bürgermeister, die seit 250 Jahren nicht aufgeführt worden sind. Ganz Kind seiner Zeit, wusste sich der Komponist geborgen in der Aussicht auf ein Jenseits und unterwarf sich mit seinem Spagat zwischen Dienstpflichten und großer Politik genauso selbstverständlich dem Diesseits. Von opiumbedingter Benebelung übrigens keine Spur.