Stolperstein der Flexion beim Vorgang oder beim Zustand: Man kann leiden, und man kann gelitten haben.

Es ist nun fast 70 Jahre her, dass wir im Gymnasium auf eine Deutschlehrerin trafen, die promoviert, hager, weißhaarig und in einem Vorkriegskostüm vor die Klasse trat. Es ließ sich nicht übersehen, sie hatte wenig Freude in ihrem Leben genossen. Genau genommen gab es nur eine einzige Freude, bei der sie auflebte, bei der sich ihr Körper straffte und ihre Augen zu leuchten begannen: bei der Grammatik. Es war nicht so, dass die 64 Jahre alte Studienrätin die Kinder mit der Grammatik quälen wollte, im Gegenteil, sie glaubte, den Schülern einen Sprachbonbon nach dem anderen zu servieren. Das hörte sich etwa so an: Die Verben „biegen“ und „beugen“ bedeuten nicht dasselbe, obwohl bei beiden die idg. Wurzel *bheug[h] zugrunde liegt. Beugen ist das Veranlassungswort (Kausativ) zu biegen und heißt eigentlich „biegen machen“.

Die Lehrerin zeigte jetzt einen zarten roten Hauch auf ihren Wangen und merkte in ihrem Eifer gar nicht, dass die Klasse längst abgeschaltet hatte. Versuchen wir es also noch einmal: Biegen und beugen bedeuten, etwas in eine andere Form zu bringen. Beim Biegen wird ein Gegenstand gekrümmt, beim Beugen wird die Grundform eines Wortes verändert. Ein Draht oder ein Blech wird gebogen, ein Substantiv kann hingegen nur stark, schwach oder gemischt „gebeugt“ werden. Bleche und Drähte sind flexibel (biegsam), auch Substantive, Adjektive, Pronomen, Artikel, Numeralia (Zahlwörter) und natürlich die Verben sind es. Sie können gebeugt oder „flektiert“ werden.

Statt des etwas unscharfen deutschen Ausdrucks „Beugung“ benutzt man heute den Fachbegriff „Flexion“. Werden diejenigen Wortarten flektiert, die Kasusformen (Fälle) bilden (früher als Nomen zusammengefasst), sprechen wir von der Deklination. Die Formenbildung der Verben heißt Konjugation, die Steigerung der Adjektive Komparation. Während die Deklination noch überschaubar ist, weil die ersten Buchstaben eines Wortes meist gleich bleiben (der Mensch, des Menschen), kann sich jemand, dessen Muttersprache nicht Deutsch ist, leicht im Irrgarten der Konjugation verlaufen. Woher sollte er auch wissen, dass die Formen „bin, ist, seid, sind, war, wäre, gewesen“ unter dem Infinitiv (der Grundform) „sein“ nachgeschlagen werden müssen?

Greifen wir als Beispiel heute einmal die Handlungsart des Verbs (Genus Verbi) heraus. Wenn wir die Frage stellen können: Tut eine Person etwas?, so haben wir es mit dem Aktiv zu tun: Er schlägt. Wird hingegen etwas getan, so befinden wir uns im Passiv, in der Leideform: Er wird geschlagen.

Passiv ist allerdings nicht gleich Passiv. Man kann leiden, und man kann gelitten haben. „Fritz wird geschlagen“ bezeichnet das Vorgangspassiv und besagt, dass der kleine Kerl in diesem Augenblick durchgeprügelt wird. „Fritz ist geschlagen worden“ zeigt jedoch an, dass der Vorgang des Schlagens abgeschlossen ist und der Junge im Zustand der Verzweiflung in der Ecke hockt und heult. Um das auszudrücken, benutzen wir das Zustandspassiv. Das Vorgangspassiv, das eine Handlung in ihrem Verlauf bezeichnet, wird mit dem Hilfsverb „werden“ gebildet: Das Fenster wird geöffnet. Das Zustandspassiv hingegen zeigt das Ergebnis einer Handlung an, und dazu benötigen wir das Hilfsverb „sein“: Das Fenster ist geöffnet worden.

Oder: Das Pferd wird gesattelt (Vorgang) – das Pferd ist gesattelt worden (Zustand). Beim Zustandspassiv sollte von der Form „ist … worden“ das „worden“ nicht weggelassen werden. So etwas gilt standardsprachlich als unfertig. Nicht: Die Maskenpflicht ist heute wieder aufgehoben, sondern: Die Maskenpflicht ist heute wieder aufgehoben worden. In Norddeutschland wird häufig das Zustandspassiv gebraucht, wenn gar kein Ergebnis, sondern die Handlung in ihrem Verlauf dargestellt werden soll. Auch das ist nicht korrekt! Es heißt nicht: Alle Mitglieder sind gebeten, pünktlich zu sein. Richtig wäre: Alle Mitglieder werden gebeten, pünktlich zu sein. Manchmal haben wir die freie Wahl, je nachdem, was wir im Detail aussagen möchten. Soll das Ergebnis genannt werden, so kann man schreiben: Er ist in Hamburg geboren worden. Berichten wir über den Vorgang, so heißt es: Er wurde in Hamburg geboren.

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