Hamburg . Gutachten attestiert dem Angeklagten im Prozessauftakt paranoide Persönlichkeitsstörung. Das Opfer erlitt bleibende Schäden.

Am Mittag des 24. Juli 2018 hat Karl Michael K. (61) bereits 2,51 Promille Alkohol im Blut. Er steht in einem Bus der Linie 4, Fahrtrichtung stadteinwärts. Neben ihm, auf einer Bank im hinteren Teil, sitzt Sabine W. Die 63-Jährige ist völlig arglos.

Es ist nicht nur der übermäßige Alkoholkonsum, der die Sinne von Karl Michael K. vernebelt. Wie der psychia­trische Sachverständige später feststellt, leidet der Mann auch unter einer paranoiden Persönlichkeitsstörung. Gegen 12.18 Uhr, der Bus fährt gerade über die Grindelallee, zieht er ein Klappmesser hervor, sieben Zentimeter Klingenlänge. Urplötzlich sticht er damit Sabine W. mehrmals ins Gesicht. Dem schwer verletzten Opfer gelingt es dann, den Täter beiseitezuschieben und nach hinten zu flüchten. Als der Bus an der Haltestelle Staatsbibliothek stoppt, hasten die Fahrgäste in Panik heraus. Auch Karl Michael K. steigt aus.

Busfahrer fixiert den Messerstecher

Draußen herrscht Aufruhr, ein dicht hinter dem 4er-Bus folgender 5er-Bus hält an, am Steuer sitzt Frank M. Nachdem eine Zeugin ihm von dem blutigen Vorfall berichtet hat, greift Frank M. beherzt ein. Der Busfahrer packt den Messerstecher, presst ihn gegen die Glasscheibe der Haltestelle und fixiert ihn dort. Währenddessen soll, so hören es Zeugen, Karl Michael K. noch eine Passantin angesprochen haben: Ob sie „Jüdin“ sei? Als die Frau verneinte, habe er gebrüllt, er „hasse Juden“. Kurz darauf nimmt ihn die Polizei fest. Von einem antisemitischen Hintergrund der Tat gehen die Ermittler jedoch nicht aus.

Der mutmaßliche Angreifer, ein kleiner Mann mit grauem Vollbart, sitzt seit der unfassbaren Messerattacke in Untersuchungshaft. Anfangs liefen die Ermittlungen noch unter dem Verdacht der schweren und gefährlichen Körperverletzung. Vor dem Landgericht steht der 61-Jährige seit Montag aber auch wegen eines heimtückischen Mordversuchs. Große Blutgefäße liegen im Gesicht, sie zu verletzen, hätte das Opfer mit hoher Wahrscheinlichkeit in akute Lebensgefahr gebracht. Einen strafbefreienden Rücktritt von der Tat sieht die Staatsanwaltschaft in diesem Fall nicht. Schließlich habe sich Sabine W. eigenhändig in Sicherheit gebracht – und dem Täter so keine Gelegenheit zu weiteren Stichen gegeben. Von sich aus habe er den blutigen Angriff nicht beendet.

Tatvorwurf: heimtückischer Mordversuch

Sabine W. ist das Opfer dieser Zufallstat und Nebenklägerin in dem Verfahren. Sie litt und leidet unter den Folgen der wahnhaften Attacke. Ihr Gesicht wird dauerhaft entstellt bleiben. Der Angeklagte fügte ihr eine sechs Zentimeter quer über die Wange verlaufende Schnittwunde zu, eine weitere zog sich vom Jochbein zwölf Zentimeter hinunter zum Kinn. Schlimmer noch: Die Verletzungen waren nicht bloß oberflächlich, die Klinge traf auch ihren Gesichtsnerv. Diese sogenannte Faszialparese führte zu unkontrolliertem Speichelfluss, einer eingeschränkten Augenlidschlussfunktion und einem hängenden Mundwinkel. Zudem hat sie Schwierigkeiten beim Sprechen.

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Karl Michael K. zum Tatzeitpunkt, bedingt durch seine Alkoholisierung und die Persönlichkeitsstörung, im Zustand „erheblich verminderter Schuldfähigkeit“ handelte. Am Ende könnte das Gericht eine Haftstrafe und eine Maßregel gegen den früheren Postbeamten verhängen. Nach Abendblatt-Informationen lebte der 61-Jährige seit Jahren in desolaten Verhältnissen. Nach der Zwangsräumung seiner Wohnung im Jahr 2014 soll er überwiegend in seinem Auto geschlafen haben. Die Polizei kannte ihn als „Wildcamper“ und Einzelgänger. Es gibt Hinweise, dass seine Persönlichkeitsstörung auch auf dem Gefühl fußte, von der ganzen Welt „ungerecht“ behandelt zu werden.

Psychiatrische Unterbringung ist wahrscheinlich

„Hier steht die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung im Raum“, sagte Gerichtssprecher Kai Wantzen. „Nach dem vorläufigen Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen könnte der Angeklagte aufgrund seiner Erkrankung auch für an­dere eine Gefahr darstellen.“ Nach Angaben seines Verteidigers will sich Karl Michael K. am 29. Januar äußern. Am gleichen Verhandlungstag ist auch Sabine W. als Zeugin geladen. Ein Urteil wird nicht vor Ende Februar erwartet.

Der Fall ähnelt einer gewaltsamen Attacke in einem Lübecker Linienbus nur vier Tage zuvor. Ein Deutsch-Iraner (34) soll am 20. Juli 2018 in dem Bus mehrere Spiritusflaschen in seinem Rucksack angezündet und mit einem Küchenmesser auf umstehende Fahrgäste eingestochen haben. Zwölf Insassen des Busses wurden dabei verletzt, einer schwer. Nach dem vorläufigen Gutachten einer Sachverständigen war der unter paranoider Schizophrenie leidende Beschuldigte zum Tatzeitpunkt schuldunfähig. Weil der Beschuldigte nach ihrer Einschätzung krankheitsbedingt eine Gefahr für die Allgemeinheit bleibt, muss das Landgericht über seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus entscheiden. Beim Prozessauftakt am vergangenen Mittwoch bat der 34-Jährige seine Opfer um Entschuldigung. „Ich habe Menschen Leid zugefügt. Das war nicht richtig.“