Hamburg. Gutachten schätzt Wert auf 1,1 Milliarden. CDU spricht von „Hütchenspielertricks“. Finanzsenator traut Kerstan-Gutachten nicht.

Wie kann es sein, dass der Wert eines Unternehmens im Frühjahr auf 645 Millionen Euro geschätzt wird – dasselbe Unternehmen im Herbst aber plötzlich fast 1,1 Milliarden Euro wert sein soll? Diese Frage stellen sich alle, die sich mit dem umstrittenen Rückkauf der Fernwärme durch die Stadt beschäftigen. Nun hat die Umweltbehörde die Berechnungen erläutert, nach denen die Wärmegesellschaft, die die Stadt zum Jahreswechsel von Vattenfall zurückkauft, doch mehr wert sein soll als der 2014 vereinbarte Mindestpreis von 950 Millionen Euro.

Hintergrund: Nachdem die Firma BDO im Frühjahr die Fernwärme auf einen Unternehmenswert von nur noch 645 Millionen Euro geschätzt hatte, geriet der 2013 per Volksentscheid beschlossene Rückkauf zum Jahreswechsel plötzlich in Gefahr. Grund: Experten befürchteten, dass es als Untreue gewertet werden könnte, den Mindestpreis von 950 Millionen Euro trotz des eingebrochenen Wertes zu zahlen – also 305 Millionen Euro zuviel Steuergeld auszugeben. Auch sei dies möglicherweise ein Verstoß gegen die Landeshaushaltsordnung oder eine unerlaubte staatliche Beihilfe. All diese Punkte hat der Senat prüfen lassen – und mehrere Rechtsgutachten haben sie angeblich ausgeräumt. Da Vattenfall nicht bereit war, sich als Minderheitsgesellschafter weiter zu beteiligen, verkündete der Senat am Dienstag den Rückkauf zum Jahresende.

Neue Gutachten zum Wert der Fernwärme

Neben den Rechtsgutachten hatten Finanz- und Umweltbehörde auch neue Gutachten zum Wert der Fernwärme in Auftrag gegeben. Das von Umweltsenator Jens Kerstan (Grüne) beauftragte Beratungsbüro LBD kam dabei zu dem Schluss, dass die Fernwärme nicht nur deutlich mehr als 645 Millionen Euro wert sei – sondern auch mehr als der Mindestpreis von 950 Millionen Euro. Die Wärmegesellschaft, die derzeit noch zu 74,9 Prozent Vattenfall und zu 25,1 Prozent der Stadt gehört, sei in Wahrheit zwischen 979 Millionen und fast 1,1 Milliarden Euro wert, erläuterte LBD-Chef Ben Schlemmermeier am Donnerstag.

Der große Unterschied zum von BDO im Frühjahr ermittelten deutlich niedrigeren Wert ergibt sich demnach aus den unterschiedlichen Bewertungsmethoden. BDO hatte den Wert nach dem so genannten IDW S1-Bewertungsstandard ermittelt. Dabei wurde laut LBD eine hohe Renditeerwartung des Eigentümers zugrunde gelegt, außerdem konnten staatliche Zuschüsse zum geplanten Bau eines neuen KWK-Kraftwerks und Steuerersparnisse nicht einberechnet werden.

Preise sollen stabil bleiben

Im neuen Gutachten von LBD dagegen wurde die Renditeerwartung gesenkt – auf einen Wert von zwischen 3,5 und 5,5 Prozent pro Jahr. Schon dadurch stieg der Wert des Unternehmens deutlich an. Wenn nämlich der Eigentümer (künftig die Stadt) deutlich weniger Geld aus dem Unternehmen als Rendite herauszieht, steigt dadurch der Unternehmenswert. Auch wurde von LBD die erwartete Förderung des Baus eines neuen KWK-Gaskraftwerks auf der Dradenau von 155 Millionen Euro einberechnet – obwohl im Bund über die Fortführung der Förderung noch nicht entschieden wurde. Außerdem führte LBD einen „Markttest“ durch, an dem sich sieben Banken und Beratungsfirmen beteiligten. Auch dabei zeigte sich, dass der Marktwert der Fernwärme über dem Mindestpreis von 950 Millionen Euro liegt.

Fast eine Milliarde muss investiert werden

LBD setzte in seinem Gutachten drei Dinge voraus: Erstens sollen die Fernwärmepreise nicht über der normalen Marktentwicklung steigen. Zweitens legte sie das Kerstan-Konzept zum Umbau der Fernwärme zugrunde – bei dem industrielle Abwärme, Wärmepumpen, Müllverbrennung und ein neues Gaskraftwerk die Wärme erzeugen. Und drittens soll keiner der laut LBD 600 Mitarbeiter der Wärmegesellschaft gekündigt werden. Für 2019 rechnet LBD noch mit einem Verlust der Fernwärme, danach steigen die Gewinne nach der Prognose stetig an, ab 2023 auf etwa 50 Millionen und 2030 auf 80 Millionen Euro pro Jahr. Investiert werden sollen bis 2030 insgesamt 549 Millionen Euro in das Leitungsnetz – davon 188 Millionen Euro in die Erneuerung, 245 Millionen in den Ausbau und 116 Millionen Euro in die Elbquerung, die nötig ist, um die Kunden im Hamburger Westen vom Süden aus zu erreichen.

Weitere 434 Millionen Euro sollen in neue Erzeugungsanlagen investiert werden, ein großer Teil davon in ein Gaskraftwerk, das Strom und Wärme erzeugen und Wärme aus anderen Anlagen (Industrie, Müllverbrennung etc.) auf die nötige Temperatur bringen soll. Damit das Geschäft rentabel bleibe, müsste der Absatz um zehn Prozent in zehn Jahren wachsen.

Finanzbehörde traut Kerstan-Gutachten nicht und rechnet anders

Die Finanzbehörde von Senator Andreas Dressel (SPD) rechnet allerdings weitaus vorsichtiger als Kerstans Umweltbehörde. Die Beratungsfirma PwC hat das LBD-Gutachten für sie kritisch unter die Lupe gekommen – und kommt zu einem ganz anderen Urteil. Demnach ist die Fernwärme nämlich nur 615 Millionen Euro wert, sogar weniger als es das BDO-Gutachten ergeben hatte. Allerdings rechnet die Finanzbehörde steuerliche Vorteile von 150 Millionen Euro hinzu, die sich aus der Integration die städtische Vermögengesellschaft HGV ergeben. Daher könne die Fernwärme mit 765 Millionen Euro bilanziert werden. Rechnet man die 155 Millionen Euro hinzu, die man sich aus der KWK-Förderung des Bundes erhofft, kommt man auf einem Gesamtwert von 920 Millionen Euro, also etwas weniger als den Mindestpreis. Diese relativ kleine Überzahlung sei aber vertretbar, heißt es. „Die Finanzbehörde wird weiterhin kaufmännische Vorsicht beim Kauf des Fernwärmenetzes walten lassen“, sagte Finanzsenator Dressel dem Abendblatt.

CDU-Umweltpolitiker Stephan Gamm warf Kerstan „Hütchenspielertricks“ vor. „Wie kann man durch das Drehen an zwei Stellschrauben einen Unternehmenswert fast verdoppeln, obwohl eine Milliarde Euro zusätzlich investiert werden muss?“, so der CDU-Abgeordnete. FDP-Fraktionschef Michael Kruse sagte: „Das LBD-Gutachten, auf dem die Rückkaufentscheidung basiert, ist ein Witz.“ Es treffe „höchst fragwürdige Annahmen und hat keinen ausreichenden Tiefgang“, so Kruse. „Wir werden die Akteneinsicht nutzen um uns ein vollständiges Bild zu machen. Wenn der Senat Steuergeld verschwendet oder gegen Beihilferecht verstößt, sind Klagen unausweichlich.“