Die Meinungsumfragen ein Jahr nach den Bürgerschaftswahlen erfreuen vor allem die Grünen. Ergebnis der AfD weist auf ein Problem hin.

Man kennt das von Wahlabenden: Kaum haben sich die Trends stabilisiert, Plus und Minus bei den Prozentpunkten sind verteilt, erlebt die hohe Kunst der Ergebnisinterpretation bei den Politikern ihre Sternstunde. Motto: Aus jedem noch so desaströsen Abschneiden lässt sich etwas Positives her­auslesen. Immerhin hätte es ja auch noch schlimmer kommen können.

Insofern hatten die meisten Kommentatoren in eigener Sache in dieser Woche leichtes Spiel. Vier der sechs Bürgerschaftsparteien konnten in der am Donnerstag veröffentlichten Meinungsumfrage im Auftrag des NDR gegenüber der Bürgerschaftswahl vor gut einem Jahr zulegen.

Den größten Sprung nach oben machten nach Angaben der Demoskopen die Grünen. Der Regierungspartner der um 6,6 Prozentpunkte geschrumpften Sozialdemokraten legte um 2,7 Punkte auf 15 Prozent zu. Das ist für die Grünen im langjährigen Vergleich ein ziemlich ordentliches Resultat. Und schon war Bürgerschaftsfraktionschef Anjes Tjarks mit einem grünen Selbstlob zur Stelle: „Mit unserer guten und lösungsorientierten Sacharbeit liegen wir vollkommen richtig.“ Die Wähler, so Tjarks weiter, erwarteten „von uns eine gestaltende Politik mit grünem Kompass, kein lautes, parteipolitisch geprägtes Gezänk“. Sagt Olaf Scholz auch immer mit Blick auf den grünen Regierungspartner.

Es stimmt übrigens, dass die meisten Bürger den Streit in der Politik nicht schätzen, schon gar nicht den in einer Koalition. Das gilt erst recht dann, wenn Auseinandersetzungen erkennbar nur der eigenen Profilierung dienen und nicht dem Ringen um die beste Lösung für ein Problem.

Wahr ist allerdings auch, dass die Hamburger Grünen in Umfragen durch die Bank stets deutlich besser abschneiden als bei Wahlen, was deren Freude über die Umfrage denn doch dämpft. Unvergessen ist beim SPD-Juniorpartner die Situation vor der Bürgerschaftswahl 2011, als sich die Grünen in Umfragen der 20-Prozent-Marke näherten, bevor Olaf Scholz seine Kampagne startete, die absolute Mehrheit holte und die Grünen bei enttäuschenden 11,2 Prozent landeten.

Alles ist eine Frage der Perspektive – so erscheinen auch kleine Erfolge groß

Apropos Enttäuschung: Die größte Enttäuschung, um nicht von Schmach zu reden, erlebte die CDU bei der Bürgerschaftswahl vor einem Jahr mit dem Absturz auf 15,9 Prozent – so wenig wie nie in Hamburg. Wenn die Christdemokraten nun einen aktuellen Kurswert von 18 Prozent verzeichnen, ist wahrlich nicht viel gewonnen. Aber Bescheidenheit ist eben mittlerweile bei den Konservativen Trumpf, und Fraktionschef André Trepoll lebt das Motto vor. „Die Richtung stimmt, die CDU in Hamburg hat zugelegt“, kommentierte Trepoll. Alles ist eine Frage der Perspektive. Mit dem folgenden Satz schlägt der Christdemokrat dann allerdings eine bemerkenswert kühne Volte: „Gute Oppositionsarbeit hält Protestparteien in Hamburg klein.“

Trepoll spielt auf die AfD an, die nach den zweistelligen Ergebnissen bei den Landtagswahlen vor vier Wochen jetzt in Hamburg nur auf acht Prozent kommt. Der Unions-Fraktionschef denkt an den Streit um die rot-grüne Senatspolitik zur Unterbringung von Flüchtlingen. Trepoll: „Wir werden uns weiterhin konsequent gegen die integrationsfeindlichen Massenunterkünfte und für stadtteilverträgliche Lösungen einsetzen.“ Das ist ehrenwert, aber im Ernst doch kaum der Grund, warum die Thesen der AfD hier bislang nicht auf fruchtbareren Boden gefallen sind. Auch die Zahlen der Umfrage legen das nicht nahe. Fast jeder Zweite – 45 Prozent – findet, dass Flüchtlinge in Hamburg nicht angemessen untergebracht werden. Aber CDU und AfD, die beide am konsequentesten Großunterkünfte für Flüchtlinge ablehnen, kommen zusammen nur auf 26 Prozent.

Der genaue Blick auf die Kritik der Befragten an der Flüchtlingspolitik des Senats stimmt doch sehr nachdenklich. Die größten Gegner an der Art und Weise, wie Senat und Verwaltung Flüchtlinge in Hamburg unterbringen, kommen – ausgerechnet von den Wählern der Grünen. 58 Prozent der Grünen-Anhänger finden die Senatspolitik in diesem Punkt nicht angemessen, gefolgt von den Linken-Wählern, bei denen es 55 Prozent sind.

Aber vielleicht hat Trepoll ja auch FDP (sechs Prozent, minus 1,4) und Linke in seine Oppositions-Rechnung einbezogen, obwohl ein Lob für Letztere bei der Union eigentlich nicht vorgesehen ist. Erstaunlich ist der Wert der Linken, die auf den Rekordwert von elf Prozent (plus 2,5) klettern, allerdings schon. „Eher würden wir Einbußen bei Wahlen und Umfragen hinnehmen, als unsere Solidarität mit Geflüchteten infrage zu stellen“, sagte Rainer Benecke, Sprecher des Linken-Landesverbands edel. Nun ja, wer hat, der hat gut reden.

Die Linken sind auch deswegen relativ stark, weil sie diejenigen auf der linken Seite des Parteienspektrums einsammeln können, denen die Politik von SPD und Grünen zu wenig radikal, zu wenig an linken Prinzipien orientiert ist. Dass Personen für Linken-Wähler offensichtlich nicht so wichtig sind, zeigt der Umstand, dass mit der einstigen Spitzenkandidatin Dora Heyenn die prominenteste Frau der Partei gar nicht mehr angehört.

Noch einmal zur AfD: Angesichts des bundesweiten Hypes um die Partei sind die acht Prozent für den Hamburger Ableger eher mager, wenngleich das Plus zur Bürgerschaftswahl 1,9 Prozent beträgt. „Wir liegen um ein Drittel besser als bei der Wahl“, sagte Fraktionschef Jörn Kruse. Rechnen können sie bei den Rechtspopulisten auch. Und Kruse hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass die AfD in Umfragen meist „zwei bis drei Prozentpunkte“ unter dem Ergebnis liegt, das sie an Wahltagen dann wirklich erzielt.

Das liegt auch daran, dass sich Wähler in Meinungsumfragen nicht gern zu extremeren Positionen bekennen mögen. Diese Scheu gilt auch für die Wahlverweigerung. Und deswegen ist der Umstand, dass jeder zehnte Befragte angibt, nicht oder ungültig wählen zu wollen, angesichts des Dunkelfelds ein alarmierendes Zeichen. Dieses verdrängte Problem ist ein Arbeitsauftrag für die Bürgerschaft.